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Ankommen, verweilen, weiterreisen. Drei Wochen in einem fernen Land sie nur das vorläufige Ende einer Reise.

© dpa

Mein Berliner Tagebuch Teil II: Piroggen und eine Monatsportion Höflichkeit

Undine Adamaite ist Kulturjournalistin aus Riga in Lettland - gerade hospitiert sie beim Tagesspiegel. Hier schreibt sie über ihre Eindrücke aus einer Stadt, in der alle joggen, aber niemand sich sputet.

Von Undīne Adamaite

Aus dem Lettischen von Felix Lintner, Riga.

Teil I des Blogs lesen Sie hier.

Mittwoch. U-Bahn.

In der U-Bahn-Unterführung ist einer Frau schlecht geworden. Es ist nicht wirklich klar, was ihr fehlt. Verwirrt, mit trübem Blick, in eine Decke aus Folie gewickelt sitzt sie auf der Erde an einen Pfosten gelehnt und eine Polizistin macht sich schon um sie herum zu schaffen. Eine Frau fragt nach, ob sie helfen kann. Mit lettischen Augen scheint mir, die Situation sei schon gelöst; ich glaube kaum, dass sich in Riga noch jemand einmischen würde. Ein bisschen behandeln wir einander zu sehr, als wären wir durchsichtig. Es gibt viele herzliche Menschen, aber im öffentlichen Raum will jeder seine Ruhe haben.

In Berlin ist die buchstäblich eiserne Übereinkunft höflich zu sein als verpflichtende Norm auf Schritt und Tritt spürbar. Als Mittel, um das Gesicht der Zivilisation zu wahren. Vielleicht ist das charakteristisch für eine Gesellschaft, deren Vorfahren noch vor kurzer Zeit erlebt haben, wie fragil die zivilisatorische Trennlinie im Menschen ist.

Ich würde nicht sagen, dass wir in Riga besonders unhöflich oder unfreundlich sind, aber trotzdem muss ich zugeben, dass ich hier die monatliche „bitte und danke”-Norm in einer Woche übertroffen habe. Die Deutschen sagen es bei jeder Gelegenheit, sei der Kontakt auch noch so kurz. Tut dies jemand nicht, gilt das wahrscheinlich schon als unvorstellbare Schroffheit. Ich mag die deutschen Freundlichkeitsrituale und befolge sie eisern wie eine Art ethische „Morgengymnastik”.

In einer Fremdsprache bleibt ein Theaterstück Fassade

Donnerstag. Im Theater

Heute Abend sehe ich mir etwas aus Lettland an – die Inszenierung des Regisseurs Alvis Hermanis und der Bühnenbildnerin Kristine Jurjane Sommergäste/Vasarnieki. Etwa ein Dutzend Zuschauer geht in der Pause, aber die, die bleiben, verfolgen das Stück sehr aufmerksam und rufen am Ende mit lautem Applaus die Schauspieler mehrere Male auf die Bühne zurück. Mein Diena- Kollege, der Kritiker Normunds Naumanis, hatte recht: Wenn man die Sprache nicht versteht, ist es unmöglich, die Inszenierung zu bewerten. Der Stoff aus Text/Subtext/Sprache und Körpersprache ist so dicht gewebt, dass man die Partitur der Aufführung nur wie die Fassade eines schönen Gebäudes genießen kann. Doch das Milieu der Helden aus Sommergäste ist im klassischen Sinne ganz und gar nicht schön. Hermanis und Jurjane haben Erinnerungen an jugendliche Pracht mit einem fast zeitgenössischen Obdachlosenlager „vermischt”. Gutsbesitzer als Hausbesetzer? Es ist faszinierend zu beobachten, wie mehrere ästhetische Codes aus verschiedenen Schaffensperioden von Hermanis die Aufführung durchziehen. Vieles aus den ersten Inszenierungen des Regisseurs hat in dieses Stück Einzug gefunden. Zum Beispiel der ästhetisch raffinierte und erotisch aufgeladene Beginn seines Schaffens aus Marquise de Sade, als sein Name auf den europäischen Bühnen noch unbekannt war.

Ich muss mich dringend an meine Deutschlehrbücher zum Selbststudium machen! Im Theater (wie sehr auch dort die literarische Erzählung in den Hintergrund gedrängt worden ist) ist das Wort doch wichtig, wenn es sich nicht gerade um chinesisches Schattentheater oder modernen Tanz handelt.

Ein paar Anmerkungen zu den Unterschieden – was die Zuschauerrituale betrifft. Wenn man ungefähr eine Stunde vor der Aufführung das Café der Schaubühne betritt, riecht es nach Würsten und Kraut. Die Menschen trinken Bier, einige auch Wein – jedenfalls: Man fühlt sich ungezwungen. Ein unvorbereiteter Lette würde denken, er sei hier falsch, und würde fragen, wo es ins Theater gehe. Zumindest wenn er nicht vorgehabt hätte, eine der unabhängigen, alternativen Bühnen zu besuchen. In den großen akademischen Theatern in Lettland finden sich die meisten Zuschauer in Festtagsgarderobe ein, in der Pause gehen sie ins Theatercafé, wo sie meistens Kaffee, Rigaer schwarzen Balsam (ein lettisches alkoholisches Getränk auf Kräuterbasis), Sekt oder Kuchen, bei größerem Hunger auch Salat oder eine salzige Pirogge bestellen. Für die mittlere und ältere Generation umweht das Theater immer noch eine feierliche Festtagsatmosphäre. Die Wurzeln dafür liegen in den Sowjetjahren, als das Theater für die Letten ein heiliger Ort, eine Kirche war – ein seltener Ort, an dem lettisch gesprochen wurde: „in der Sprache Äsops”, auch über die Idee der Freiheit Lettlands. Peter Brooks Begriff des „heiligen Theater” ist in diesem Zusammenhang genau passend.In Lettland gehört ein Theaterbesuch zum „guten Ton”. Deshalb sind auch manchmal gewaltsam mitgeschleifte Herren im Saal zu entdecken, die ergeben an der Seite ihrer Frau schnarchen, oder ohne das geringste Interesse das Geschehen auf der Bühne verfolgen.

Die Garderobe der Schaubühne – einzeln abschließbare dicke Eisenschränke  - lässt ein wenig U-Bahn-Atmosphäre aufkommen. Doch ich habe ein gutes Gefühl. Leicht und offen.

Seelige Stunden im Kunsthaus

Samstag. Friedrichstrasse

Zuerst ein paar glückselige Stunden im Kunsthaus auf mehreren Etagen in der Friedrichstrasse. Wenn ich auch überzeugt bin, dass der Schlüssel zur deutschen Kunst und Kultur das Studium des Expressionismus und der unterschiedlichen Arten des Radikalismus ist, suche ich im Kunsthaus-Paradies doch nach dem, was mir gefällt. Ich kaufe einen meiner Lieblingsfilme, Wim Wenders Himmel über Berlin, der auf der DVD-Hülle als „poetisches Meisterwerk” beschrieben ist und den nicht weniger poetischen Dokumentarfilm von Anne Linsel und Rainer Hoffmann Tanzträume, in dem sich ungeschliffene und unsichere Jugendliche ohne Tanzerfahrung, im Laufe der Proben zu einem Stück von Pina Bausch, vor den Augen des Zuschauers in wundervoll schöne junge Frauen und Männer verwandeln. Doch wenn auf den Straßen Berlins eine Frau Rock trägt und Strumpfhosen, die dünner als 40 Den sind, ist sie bestimmt zugereist. Alles, was Sie brauchen, wenn Sie nicht gerade vorhaben in ein Restaurant mit weißen gestärkten Tischdecken, oder zu einem Vorstellungsgespräch in einer Bank zu gehen, sind die unabdingbaren Turnschuhe, Jeans und irgendeine puffige Jacke. Aber wenn wir über Poesie sprechen, wird mir unter dem Einfluss des konkreten und direkten Tons des deutschen Theaters bewusst, dass viele der lettischen Ausdrucksmittel (nicht nur in der Kultur) zu sentimental, neblig abstrakt und pseudopoetisch sind.

Abends das Stück von Christoph Marthaler Glaube Liebe Hoffnung in der Volksbühne. Bei mir sammeln sich Fragen an den Tagesspiegel-Ressortleiter Rüdiger Schaper über die deutsche Theaterästhetik und deutsche historische Theatertraditionen an. Brechts „Songs” und Verfremdungseffekte fast in jeder Aufführung. Ist es möglich, dass genau das die typischen Berliner Theaterbesucher, junge Männer im Alter von ungefähr 18-25 anlockt? In den größeren Rigaer Theatern ist das ein unvorstellbares Bild. Nachdem sie ihre Jacken unter den Sitzen verstaut haben und ihre typischen Berliner Erkennungszeichen, am Hinterkopf hochgerollte Strickmützen, zusammengefaltet haben, sind sie ganz Auge und Ohr. Sie zeigen lebhafte Reaktionen und sehen intelektuell aus – und emotional berührt. In der Pause halten die Menschen Bierflaschen in den Händen und kaufen ziemlich große Brezeln. Auch vor der Aufführung am Eingang zur Volksbühne hat ein Mann eine solche verkauft.

Einmal zu Hause bleiben

Sonntag. Eigen vier Wände

Die Kirchenglocken läuten wieder. Meine erste Woche in Berlin ist vorbei. Heute gehe ich nicht aus dem Haus. Ich schreibe Artikel. Ich möchte mehr mit den Menschen sprechen, die hier leben. Ich habe das Büchlein Wer sind die Deutschen/ Kas ir vācieši zweier deutscher Autoren (Stefan Zeidenitz, Ben Barkow) mitgenommen, in dem sie selbstironisch und karikierend das Porträt des „Durchschnittsdeutschen” als „Wurstessergestalt” zeichnen. Ein Beispiel: „Denjenigen, die denken, die Deutschen seien ein Volk von Robotern mit rechteckigem Kinn, deren Sprache sich wie ein entsetzliches Gurgeln im Abwasserrohr anhört, eine Nation, deren Autos anderen Herstellern überlegen sind und deren Fußballnationalmannschaft fast nie verliert, scheint, man sollte sich vor den Deutschen besser in Acht nehmen. Doch unter dieser Oberfläche verbirgt sich ein Volk, das unverkennbar Zweifel hat, wo es wirklich steht, wohin es in der Zukunft geht und sogar wie es dorthin gekommen ist, wo es jetzt ist”.

Die lettische Ausgabe erschien 1999. Seit damals ist viel Zeit vergangen. Ich werde neue Wahrheiten über die Deutschen suchen. Wer sind die Deutschen? Im Jahr 2013? Wie definiert sich die Berliner Identität? Das Bekenntnis „Berlin ist mehr als Currywurst”, das ich in der U-Bahn gesehen habe, werde ich im echten Leben überprüfen.

Mein erstes Interview habe ich schon vereinbart. Zufällig habe ich im Theater eine deutsche Psychologin kennengelernt. Nach ein paar formellen Floskeln, begann sie, von sich aus über das Nachkriegstrauma ihrer Generation zu sprechen, das sich in den Familien immer noch auswirke. Ich sprach sie auf ein Interview an, sie hat zugestimmt. Wir gehen in den Zuschauersaal, und es stellt sich heraus, dass wir in der dritten Reihe auf den Plätzen fünf und sechs sitzen. Na, das ist ja eine tolle Metropole!

Von Undīne Adamaite

Aus dem Lettischen von Felix Lintner, Riga.

Teil I des Blogs lesen Sie hier.

Der Tagesspiegel beteiligt sich am journalistischen Austauschprojekt "Nahaufnahme" des Goethe-Instituts, bei dem Redakteure aus Deutschland und anderen europäischen Ländern für jeweils zwei bis vier Wochen ihren Arbeitsplatz wechseln. Undine Adamaite von der Tageszeitung "Dienas Mediji" in Riga ist drei Wochen lang zu Gast beim Tagesspiegel. Im Gegenzug schreibt Tagesspiegel-Mitarbeiter Nik Afanasjew im Februar für "Dienas Mediji". Weitere Informationen finden Sie unter: www.goethe.de/nahaufnahme

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