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MEIN Europa (1): Experimente wagen

Viele Jahrhunderte lang war Europa ein Schlachtfeld. Kaiser und Könige, Päpste und Fürsten stritten um die Verfügungsgewalt. Sie taten es mit Strategien der Heirat und des Krieges. Der entscheidende Machtgewinn geschah im Hochzeitsbett oder mit Waffengewalt.

Gibt es irgendeine Ebene zwischen der Algarve und St. Petersburg, auf der es noch nie ein Gemetzel unter Tausenden von Männern gab? Falls ja, müsste man dort ein Denkmal errichten mit der Inschrift: „Dies ist die einzige größere Fläche Europas, auf der nie eine Schlacht stattgefunden hat.“

Der Einflussbereich der Großmächte wurde mit physikalischer Präzision immer neu austariert. Europäisches Gleichgewicht lautete das Zauberwort, balance of power. Verschob sich das Gleichgewicht durch Heirat, musste dies durch Schlachten wieder korrigiert werden. Prinzessinnen wurden eingesetzt wie Schachfiguren. Noch der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, der unmittelbar mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg verknüpft ist, wurde durch eine Heiratsaffäre ausgelöst.

Ich bin 1937 geboren. Als ich ein Kind war, ging es wieder los auf dem gequälten Kontinent. Diesmal zählten allein die Panzer und Bomben – bis Europa in Trümmern lag. Am Ende dieses Zweiten Weltkriegs hatte sich die balance of power zum ersten Mal ins Weltweite verschoben, man nannte es den Kalten Krieg. Unter seinem prekären Schutz konnte das westliche Europa von einem ewigen Schlachtfeld zu einem bis heute faszinierenden Labor der Demokratie werden.

Was ist ein Labor? Ein Raum, in dem gearbeitet wird. Hart. Ausdauernd. Da flattern keine Fahnen, blasen keine Trompeten, werden keine schallenden Reden gehalten. Da wird gedacht und erprobt. Die Experimente, welche Fehler ans Licht bringen, sind oft wichtiger als jene, bei denen alles aufzugehen scheint. Pannen gibt es, Sackgassen, Streit der Wissenschaftler. Auf eine kühne Hypothese kommen hundert mühselige Erprobungen. Scheint einmal etwas zu gelingen, so dass man schon den Wein zum Feiern bereitstellt, taucht doch noch ein Störfaktor auf, und alles muss neu angefangen werden. Das braucht Zeit und stiftet Ärger.

Genau so ist es mit der Demokratie im europäischen Labor, im gemeinsamen Labor der EU und den vielen Einzellabors der Staaten. Demokratie ist immer mühsam, glanzlos, unheroisch. Sie lebt vom Kompromiss, ersetzt das Gold der Throne durch Aktenmappen und hält dem Rausch der Macht, der Europa so oft mit Blut überschwemmte, Sitzungen entgegen, mit Traktandenlisten und Mineralwasser. So wird der Friede zwischen den Völkern Europas bewahrt und gesichert. Wer darüber spotten mag, soll es tun. Die Demokratie gestattet auch dies.

Peter von Matt lebt als Literaturwissenschaftler in Zürich. Zuletzt erschien „Wörterleuchten. Kleine Deutungen deutscher Gedichte“ (Hanser). Der Text ist ein gekürzter Beitrag der Deutschlandfunk-Reihe „Mein Europa“ zu den Europawahlen. Bis 5. Juni tägl. außer Sonn- und Feiertags ab 9. 10 Uhr sowie auf www.dradio.de.

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