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MEIN Europa (5): Sehnsuchtsort für Nomaden

Nicht nur Abenteurer zieht es in die Fremde, auch Flüchtlinge verlassen ihre Heimat. Gila Lustiger trifft Einwanderer in Paris.

In der Métro in Paris. Ich sage der Frau, die mir gegenübersitzt, dass mir ihre Ohrringe gefallen. Sie lacht: Wenn ich ihre Ohrringe erstehen wolle, müsse ich in die Wüste zu den Tuareg gehen. Wir kommen ins Gespräch, sie heißt Amber, ist 58 Jahre alt und Buchhalterin in einem mittelständischen Unternehmen für Betonerzeugnisse. Ihre Eltern und Geschwister leben in einer Oasenstadt in Algerien. Mit 18 ist sie nach Paris gekommen, aufgewachsen ist sie in einem Zelt; seit Generationen lebte ihre Familie vom Karawanenhandel. Manchmal vermisst sie den leeren Horizont und den Sonnenuntergang, der die Sanddünen rosa färbt. Als sie aussteigt, blicke ich ihr nach und denke noch eine Weile an die Sanddünen, deren Wellenform sich im Wind verändert.

Ich habe einmal einen serbokroatischen Schriftsteller mit der gleichen Wehmut von der Kastanienallee vor dem Haus seiner Kindheit schwärmen hören. Er erzählte vom Geruch der Kastanienblüten. „Sie duften doch überall gleich“, wandte ich ein. Er schüttelte den Kopf: „Aber in meiner Kindheit mischte sich ihr Geruch mit dem Geruch des Kölnischwassers am Hals meiner Mutter, dem Geruch des Wachstuchs auf dem Tisch, des Kaffees, der Seife, des Lederbands am Hut meines Vaters ...“

Rudyard Kipling schrieb einmal, dass es zwei Arten von Menschen gibt: Die einen bleiben zu Hause, die anderen nicht. Kipling dachte an die britischen Seefahrer. Aber nicht nur Abenteurer zieht es in die Fremde, auch Flüchtlinge verlassen ihre Heimat. Meist fehlt ihren Geschichten das Betörende, meist will keiner sie hören. Geschichten von Angst, Hunger, Heimweh und der Hoffnung, irgendwann einmal ein ganz normales Leben zu leben. Europa kennt beides: Einwanderungs- und Auswanderungswellen.

Einem Taxifahrer verdanke ich eine recht gute Definition von „normalem Leben“. Wir fuhren durch die leeren Boulevards und hörten Chopins Mazurken. Der Pianist sei Dinu Lipatti, er komme aus Yunnan und sei Musikologe, sagte der Fahrer. 21 Jahre habe er wegen „Verehrung der westlichen Kultur“ im Gefängnis verbracht. Aber kann denn ein Lied oder ein Buch so viel Leid wert sein? Er grinste: „Junge Frau, Sie haben es noch nicht bemerkt, aber Sie haben einen riesengroßen Fleck auf ihrem Seidenkleid. Gleich werden Sie sich furchtbar darüber aufregen.“ Ich habe mich tatsächlich ein wenig geärgert – und dann gelacht. Sich über einen Soßenfleck aufregen oder über die Metro, die man verpasst hat: Dass andere Menschen uns Europäer darum beneiden, das gibt zu denken!

Gila Lustiger lebt als Schriftstellerin in Paris. Der Text ist ein gekürzter Beitrag der Deutschlandfunk-Reihe „Mein Europa“ im Vorfeld der Europawahlen, die am Freitag zu Ende ging. Zu hören auf www.dradio.de.

Gila Lustiger

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