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Kultur: Mein Freund, mein Publikum

Freuds Briefpartner: zum 150. Geburtstag des Berliner Arztes Wilhelm Fliess

Über Jahre hinweg waren sie einander erste Leser und als Briefeschreiber das einzige Publikum ihrer Theorien. Doch während der Ruhm von Sigmund Freud heute alles überstrahlt, ist sein Berliner Freund, der Arzt Wilhelm Fliess, merkwürdig konturlos geblieben. Zwar sind von ihm auch keine Gegenbriefe überliefert, aber die Geschichte der Psychoanalyse tut ihm unrecht, wenn sie ihn übergeht. Denn Fliess hat immerhin den Versuch unternommen, zu Freuds psychologischem Überbau den physiologischen Unterbau zu liefern.

Freuds Briefe an Fliess bieten einen prägnanten Einblick in die Herausbildung der Psychoanalyse zu einer neuartigen Tiefenpsychologie. Einer von ihnen, geschrieben am 6. Dezember 1896, steht nun im Mittelpunkt eines Aufsatzbandes, der die Ergebnisse einer Bremer Tagung zum 150. Geburtstag des Mediziners an diesem Freitag zusammenfasst. Seine Besonderheit besteht darin, dass Freud darin erstmals einen „psychischen Apparat“ entwirft, der durch „Aufeinanderschichtung“ entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das Material der „Erinnerungsspuren“ eine „Umordnung“ und „Umschrift“ erfährt. Manchem Autor des Aufsatzbands kommt Wilhelm Fliess wie ein paranoider Zahlenmystiker vor – aber zugleich ässt sich auch der Zauber erahnen, der seinerzeit von diesem Arzt ausgegangen sein muss. Die „Aktualität der Anfänge“, wie der Band heißt, lebt auch vom Esprit des Pioniergeists.

Geboren 1858 in Arnswalde in der Mark Brandenburg und aufgewachsen in einem jüdischen Elternhaus, erwarb Wilhelm Fliess seine Schulbildung im Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Er studierte Medizin unter Hermann Helmholtz, Rudolf Virchow und Emil Du Bois-Reymond. Und er ließ sich zum Allgemeinpraktiker ausbilden, nicht etwa, wie immer wieder erzählt wird, zu einem Hals-Nasen-Ohrenspezialisten.

Nachdem sein Vater bereits gestorben war, als Fliess Abitur machte, begann der junge Mann bereits früh, in Fachzeitschriften und in der Berliner Tagespresse medizinische Feuilletons zu publizieren. Nach seiner Dissertation im Jahr 1883 füllte sich seine junge Praxis schnell, denn aufgrund des Kontakts zur Presse hatte er sich bereits einen Namen gemacht. Zum Patientenkreis von Wilhelm Fliess zählten unter anderen Julius Rodenberg, der Herausgeber der „Deutschen Rundschau“, Georg Davidsohn, der Herausgeber des „Berliner Börsen-Couriers“ und Arthur Levysohn, der Herausgeber des „Berliner Tageblatts“. Aber auch der Schriftsteller Ludwig Pietsch, der Industrielle Wilhelm von Siemens und der Bankier Carl Fürstenberg ließen sich von ihm behandeln.

Zur Zeit der Niederschrift von Freuds Brief war Fliess einer der gefragtesten Hausärzte der Berliner Presse- und Literaturszene. Auch Freud selbst suchte den medizinischen Rat des Kollegen und bewunderte dessen Fähigkeit, den Kranken nach allen Seiten hin zu explorieren. Beeindruckt war er auch von Fliess’ Lebensstil, der in der Von der Heydtstraße 1 die ehemalige Wohnung von Paul Lindau bezogen hatte, dem Herausgeber verschiedener Kulturzeitschriften und Autor des 1886 in zwei Bänden erschienenen, erfolgreichen Berlinromans „Der Zug nach dem Westen“.

Als Mediziner untersuchte Wilhelm Fliess den Symptomenkomplex der nasalen Reflexneurose (1893) und zeigte die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen auf (1897). Als 1906 sein Hauptwerk, „Der Ablauf des Lebens“ erschien, hatten sich Freud und Fliess längst aufgrund einer verwickelten Plagiatsaffäre um Veröffentlichungen zur Bisexualität des Menschen und der Periodenlehre entfremdet. Dennoch hielt er den Kontakt zu anderen Berliner Psychoanalytikern wie Max Eitingon und Karl Abraham, den er ärztlich betreute.

Wilhelm Fliess, der sich auch als Begründer der klassischen Biorhythmik hervorgetan hat, starb am 13. Oktober 1928. Mit seiner Frau und Mitarbeiterin Ida Bondy, die er 1892 geheiratet hatte, liegt er auf dem Dahlemer Friedhof in einem Ehrengrab.

Frank Dirkopf u.a. (Hg.): Aktualität der Anfänge. Freuds Brief an Fliess vom 6. 12. 1896. transcript Verlag, Bielefeld 2008. 187 Seiten, 20,80 €. – Die Gesamtausgabe von Freuds Briefen an Fliess liegt im S. Fischer Verlag vor. Ein Reprint der 1886 erschienenen Ausgabe von Fliess’ „Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen in ihrer biologischen Bedeutung dargestellt“ ist 2007 im Saarbrücker VDM Verlag Dr. Müller erschienen.

Stefan Goldmann

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