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Kultur: "Mein langsames Leben": Ein Dach aus Wörtern

Man kann diesen Film spielen wie Memory. Paare suchen.

Man kann diesen Film spielen wie Memory. Paare suchen. Paare, die zueinander passen. So viele Paare, so viele so ähnliche Paare. Und dann passen sie doch fast immer nur fast zueinander.

Man kann diesen Film lesen wie Sätze. In ihm blättern wie in einem Buch. Keine Zusammenhänge ansteuern, sie stellen sich schon ganz von alleine her. Man kann auch Lieblingssätze anstreichen beim Sehen. Einmal hält ein Vater eine Rede auf seine Tochter, die sich gerade verheiratet, eine kleine Ansprache vor dem Tanz. Wie oft ist er mit der Tochter im Kino gewesen. Jetzt hat Maria, so heißt sie, ihren Josef, so heißt er, und der Vater geht manchmal allein. "Ich lege dann meine Jacke auf den Sessel neben meinem", sagt er, "so wie in der Zeit davor, wenn ich gewartet habe, dass sie mit den Erdnüssen zurückkommt."

Man kann diesen Film sehen wie Bilder einer Ausstellung. Die Kamera schaut zu, was in ihrem Rahmen passiert. Manchmal reden Leute. Manchmal sitzen sie nur da. Manchmal sieht jemand zu, wie jemand anderer tanzt, und die Kamera zeigt nur dieses Zusehen und Zuhören, das ist schön. Manchmal stehen Leute auf einem Balkon, und die Kamera steht in der Höhle der Wohnung wie jemand, der sich nicht ins Freie wagt. Oder Leute sind in einem Krankenzimmer, und die Kamera bleibt draußen, so draußen, dass vor lauter Scheibenspiegeln die Menschen dahinter fast unsichtbar sind. Ja, so kann man von Bild zu Bild gehen in diesem Film, in eigener Geschwindigkeit. Oder Langsamkeit. Was so ziemlich aufs Gleiche rauskommt in "Mein langsames Leben".

Was man nicht in diesem Film kann, ist: sich leiten lassen. Durch eine Geschichte zum Beispiel. Durch einen ordentlichen Helden oder eine unordentliche Heldin allein. Angela Schanelec zeigt Leute um die Dreißig in einem Sommer in der Stadt. In Städten, wie sich herausstellt. Auf dem Land auch. Am Bodensee schließlich - und leben nicht alle diese Leute auf dem Boden eines Sees? Der Wasserhimmel ist meist weißgrau in diesem Sommer, und die Leute schwimmen in kleinsten Schwärmen zueinander hin oder aneinander vorüber. Glücklich sind sie nicht, aber auch nicht ausdrücklich unglücklich. Manche wollen Kinder. Manche haben Kinder, und die schwimmen nur so mit wie kleine grauschwarze Fischlein. Manche sind verheiratet. "Seid ihr glücklich?", fragt jemand. "Doch, sicher", antwortet jemand und sagt im gleichen Atemzug, "meine Ehe ist zu Ende". Schon geht man wieder auseinander. So langsam zu Ende gegangen kann eben das Leben mit jemand sein

Also gut, reden wir von Valerie. Architekturstudentin kurz vorm Examen, sie wohnt bei Marie, die ein bisschen Maklerin ist, und überhaupt geht es viel um Häuser, Räume, Schneckenräume. Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, würde Handke sagen. Valerie könnte auch Handkes linkshändige Frau sein, nur ein bisschen jünger und, wenn ich da jetzt nichts verwechsle, auch ohne Kind. "Ich bin den ganzen Sommer da", sagt Valerie, als die anderen von ihren Reiseplänen nach Sardinien und sonstwohin erzählen. Und dann muss Valerie doch reisen, weg aus Berlin: Der Vater liegt im Sterben, und sie fährt zu ihm an den Bodensee.

Ja, hier könnte eine Geschichte anheben. Für Valerie, stimmt schon, nimmt sich Angela Schanelec ein bisschen mehr Zeit als für alle die anderen - für diese stille Schwester ihrer Heldin aus "Plätze in Städten", nun gut, es ist eine vielleicht acht Jahre ältere Schwester. Niemand wohnt mehr zu Hause, im Elternzuhause, und anderswo ist auch kein richtiges Zuhause geworden. Erst als der Vater tot ist - es ist manchmal von Vatertochterliebe und Tochtervaterliebe die leise Rede in diesem Film -, zieht sie vorsichtig bei sich ein: zieht sich ein Dach aus Wörtern über den Kopf, aber nicht für lange.

Man kann diesen Film in diesen Tagen auch ausprobieren als Wiedereinübung ins Private. Denn Angela Schanelec, die darin nichts weiter und nichts Geringeres erforschen will als "Normalität", hat einen sehr privaten Film gedreht. Über Leute, für die die Welt - wo auch immer - sich immer sogleich in einen neuen Innenraum verwandelt. Nur einmal ist von den sogenannten großen Dingen die Rede. Sophie war ein halbes Jahr in Rom, Sophie, die wir am Anfang des Films und an seinem Ende sehen, und da kommt sie im Café ins Gespräch. Was es Neues gibt, fragt sie einen Mann, wie man so Leute fragt, wenn man lange weg war. Und er: "Keine Katastrophen heute." Und sie: "Man weiß immer nicht, will man Katastrophen oder will man keine."

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