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Kultur: Mein Name ist Julia und ich lebe im Internet

Wahllektüre? Mengenweise totes Holz: die Piratenpartei als literarische Kurzepoche.

Die Geschichte der Piraten muss neu geschrieben werden. Bislang dachte man ja, dass es sich um eine Partei, oder mehr noch, um eine politische Bewegung handelt, Stichwort: Internet, Transparenz, flüssige Demokratie, die neuen Grünen.

Falsch, ganz falsch. Es handelt sich vielmehr um eine literarische Kurzepoche, die ihre Blütezeit zwischen 2011 und 2013 erlebt hat und die exakt mit den Bundestagswahlen am 22. September enden wird. Sie brachte eine erstaunlich große Menge von dem hervor, was Piratenmenschen angeblich nur mit spitzen Fingern anfassen – sogenanntes totes Holz, also Papier. Ein Treppenwitz der jüngsten deutschen Geschichte: Bei den Publikationen über die Piraten handelt es sich um Kulturgüter, um altmodische Bücher, die für Geld verkauft und ohne schriftliche Genehmigung des Verlags weder vervielfältigt noch verbreitet werden dürfen, schon gar nicht im Internet.

In die Literaturgeschichte wird die Epoche vermutlich als das „orangefarbene Zwischenspiel“ eingehen, aufgrund der einfallsreichen Farbgestaltung der Cover. Auch haben es sich die Lektorats- und Marketingabteilungen nicht leicht gemacht: In den kommenden Jahren werden noch zahlreiche Dissertationen nötig sein, um sämtliche Metaphern und Wortspiele der Piratenbücher in all ihren Facetten zu dekonstruieren.

Doch wir greifen vor. So fing es an: Im Oktober 2011, wenige Wochen nach dem Überraschungssieg der Piraten in Berlin, wirft der Journalist Martin Häusler ein bebildertes Taschenbuch auf den Markt. „Die Piratenpartei. Freiheit, die wir meinen. Neue Gesichter für die Politik“. Den Ruck, der damals durch die professionellen Schreibstuben der Nation ging, kann man sich gut vorstellen. Verdammt, ein Trend! Schnell, Exposés müssen her, Buchverträge!

Ab Ende 2011 schreibt dann jeder Politikwissenschaftler und Politikjournalist, der gerade nichts Besseres zu tun hat, ein Buch über die Piratenpartei. Die Bücher heißen: Die Piratenpartei. Die Piratenpartei. Die Piratenpartei Deutschland. Die Piratenpartei. Piraten ahoi! Das Betriebssystem erneuern: Alles über die Piratenpartei. Unter Piraten. Die Piraten: Von einem Lebensgefühl zum Machtfaktor. Meuterei auf der Deutschland: Ziele und Chancen der Piratenpartei. Piratenkommunikation. Die Piratenpartei. Die Piratenpartei: Beginn einer neuen politischen Ära.

Ein Titel schert aus: „Klick mich!“ Ende 2012 grätscht Piratin Julia Schramm mit ihrem Coming-of-Age-Buch in die dröge Analyseliteratur hinein. Allein für den grandios schlüpfrigen Untertitel („Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin“) zahlt der Verlag ihr einen sechsstelligen Vorschuss. Zu Recht. Denn schon mit dem ersten Satz ihres Buchs schreibt Schramm augenblicklich Literaturgeschichte: „Mein Name ist Julia und ich lebe im Internet.“

Damit ist der neue Ton vorgegeben. Während die Piratenpartei das eigene Führungspersonal im Wochenrhythmus bei Twitter verschleißt, entdecken etliche Internetbewohner die Freuden der zurückgezogenen Autorschaft. Die Titel werden poetischer. Die schöne, nachdenkliche Marina Weisband schreibt sich Anfang 2013 ihre politischen Utopien von der Seele: „Wir nennen es Politik“. Ex-SPD-Mitglied Wolfgang Gründinger erklärt ausführlich und umständlich, warum er zu den Piraten übergelaufen ist: „Meine kleine Volkspartei. Von einem Sozi, der absichtlich Pirat wurde“. Journalistin Astrid Geisler putzt das Klo in der Berliner Parteizentrale und setzt sich für die Anschaffung einer Spülmaschine ein: „Piratenbraut. Meine Erlebnisse in der wildesten Partei Deutschlands“. Nur Ex-Geschäftsführer Johannes Ponader ist noch nicht fertig mit dem Sachbuch, an dem er laut eigener Homepage gerade schreibt.

Falls das Buch von seiner Zeit bei der Piratenpartei handeln sollte, könnte es zu spät kommen. Denn erst vor wenigen Wochen haben zwei Autoren das Ich-und-die-Piraten-Motiv final ausgereizt und gleichzeitig furios zu Grabe getragen. Ein Jahr lang war Drehbuchautor Uwe Wilhelm Mitglied bei den Piraten. Um daraus 200 Buchseiten („Piraten. Auslaufen zum Kentern. Wie man eine Partei erfolgreich versenkt“) zu machen, durfte kein ödes Detail ausgelassen werden: „Der Zug fuhr pünktlich im Bielefelder Hauptbahnhof ein, ich erwischte das letzte freie Taxi und fuhr zum Hotel Arcadia“.

Den Höhe- und Schlusspunkt des Enthüllungsgenres liefert am Ende Johannes Braun, ein Ex-Mitarbeiter der Saarland-Piratenfraktion („Digital naiv“). Sein schockierendes Fazit lautet: „Die Piraten verstehen das Internet auch nicht besser als der Rest der Bevölkerung“. Hätten wir das schon vor drei Jahren gewusst – wie viele Bäume könnten heute noch leben. Astrid Herbold

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