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Kultur: Melos und Melancholie

Nikolaus Harnoncourt nimmt die Berliner Philharmoniker an der Hand – und Bach beim Wort

Auf dem Weg nach Hause, durch die vollmondkühle Großstadtnacht, erhärtete sich der Verdacht mit jedem Schritt: Das war gar keine Musik. Das war irgendetwas anderes. Auf jeden Fall irgendetwas anderes als ein normales Abo-Konzert, in dem ein durch alle Stahlbäder der so genannten historischen Aufführungspraxis gegangener Maestro den Berliner Philharmonikern etwas über Johann Sebastian Bach erzählt, den kristallinen, geisteshellen „Meister aller Meister“: über dessen Rhetorik, Phrasierung, Dynamik und Artikulation. Denn genau das, was man vor wenigen Jahren noch erwartet hätte (wäre Nikolaus Harnoncourt schon früher auf den durchaus verwegenen Gedanken gekommen, mit den Berlinern, ausgerechnet mit den Berlinern, Bach zu spielen!), trat an diesem ehrfürchtig umjubelten Abend in der Philharmonie nicht ein: Die beiden Orchestersuiten (BWV 1066 und BWV 1068) und die beiden Konzerte des Programms dienten keineswegs dazu, das große barocke Rasselwerk anzuwerfen oder auf Teufel komm’ raus wider den Stachel jeglichen Wohlklangs zu löcken, auf Teufel komm’ raus das Strukturelle und ewig Röntgenbildhafte dieser Musik zu betonen.

Es wäre gewiss sehr gewagt, zu behaupten, Nikolaus Harnoncourt sei nunmehr komplett in die entgegengesetzte Richtung unterwegs. Ganz falsch ist es freilich nicht. Denn wie der 72-Jährige da so steht, ebenerdig und vor einem geradezu winzigen philharmonischen Schärflein, wie er sich immer wieder bemüht, nichts zu machen, nichts, außer diesen wahnwitzig guten Musikern einfach nur zuzuhören, oft mit gesenktem Haupt – das strahlt weniger Gelassenheit und altersweise Seelenruhe aus als vielmehr: Melancholie, Schmerz und Trauer. Worüber? Über die Verlorenheit solcher Musik in dieser Zeit vielleicht, und über die immer unstillbarere Sehnsucht des Menschen nach dem Schönen, Echten, Wahren.

Dies alles klingt viel pathetischer als die Musik selbst. Und natürlich gab Harnoncourt an diesem Abend auch hin und wieder ganz „den Alten“, denjenigen, der zwar ohne Taktstock, aber dafür gleich mit zwei erhobenen Zeigefingern die Musik in ihren, seinen Ausdruck zwingt: Im Forlane der C-Dur Suite etwa, wenn die Streicher sich zu einem brummenden, sirrenden, flirrenden Wespennest zusammenballen, oder in den beiden Passepied-Sätzen am Ende des Stücks, wenn die musikalischen Motive überm rhythmischen Grund wie Quecksilbersäulen auf und nieder steigen. Und mag das einleitende Grave dieser Suite auch aufschäumen und zerfließen wie Gischt in der Luft – die Bodenhaftung, seinen Ernst, das Wissen ums Woher und Wohin verliert dieser Bach nie.

Das Agogische, das freie Modellieren des Bachschen Klangkörpers, es inspirierte auch die beiden Solisten: den Geiger Thomas Zehetmair in einer minimalistisch ausgetüftelten Wiedergabe des a-Moll Violinkonzerts und den philharmonischen Wunder-Oboisten Albrecht Mayer, der den Saal im Adagio des d-Moll Doppelkonzertes mit seinem überirdisch schönen, sinnlich herben Ton zu Tränen rührte. Noch ergreifender aber: die Air aus der dritten Orchestersuite. Der Fußgängerzonenschlager als Totentanz. Ohne jedes Vibrato und doch: innerlich beschwingt, ja befriedet. Als hielte er seinen allergrößten Schatz im Arm drehte Harnoncourt auf dem Podium feine, selbstvergessene Pirouetten. Ganz allein. Bald unsichtbar. Wie Musik.

Christine Lemke-Matwey

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