zum Hauptinhalt

Kultur: Menschliche Bestien

Calixto Bieito inszeniert in Zürich „Die Soldaten“, als Koproduktion mit der Komischen Oper.

Wer eine Spielzeit mit Bernd Alois Zimmermanns düsterer, enorm aufwendiger Oper „Die Soldaten“ beginnt, hat Mut. Dass Intendant Andreas Homoki in seiner zweiten Saison am Zürcher Opernhaus dabei das apokalyptische Opus in die Hände eines Radikalregisseurs wie Calixto Bieito legte, erhöhte noch die Spannung. Am Ende der Premiere aber gab es nach einem musikalisch überragenden, szenisch über weite Strecken intensiven Abend langen Applaus. Das Wagnis ist geglückt. Ein Ausrufezeichen steht hinter dieser Produktion, die im Juni kommenden Jahres auch an der Komischen Oper Berlin zu sehen sein wird.

Jede Inszenierung der multimedialen, 1965 in Köln uraufgeführten Oper nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz ist eine logistische Herausforderung – mit ihrer riesigen Orchesterbesetzung, einer Jazzband, zwei Orgeln, dem großen Solistenensemble, den Filmprojektionen (Video: Sarah Derendinger) und Bandzuspielungen. Im eher kleinen Züricher Opernhaus findet Bieito dafür ein schlüssiges Raumkonzept. Der hochgefahrene Orchestergraben bildet die Spielfläche, für das Orchester hat Rebecca Ringst auf der Bühne ein großes, gelbes Stahlgerüst gebaut, mit verschiedenen Ebenen für die Hundertschaft. Dirigent Marc Albrecht, der mit kühlem Kopf und ganzem Körpereinsatz das Orchester durch die Partitur führt, trägt Militäruniform, ebenso wie die Musiker. Die instrumentale Gewalt, die immer wieder von diesem Klangkörper ausgeht, ist in ein starkes Bild gebracht: Das Instrument als Waffe.

Aber auch akustisch funktioniert die räumliche Anordnung hervorragend. Die brutalen Orchesterattacken werden durch die räumliche Distanz in ihrer Schärfe gemildert – oder bisweilen auch zugespitzt, wenn die Schlagzeuger durch das Stahlgerüst auf die Bühne geschoben werden und direkt im Geschehen ihre Salven abfeuern. Die Zentrierung des Klangs bei gleichzeitiger räumlicher Staffelung lässt Zimmermanns Musik lebendig werden, wenn die Cluster zu flirren beginnen oder sich die Dies-Irae-Anspielungen im Blech schneidend verdichten. Die hervorragenden Solisten agieren nah beim Publikum und sind so auch stimmlich sehr präsent. Dass der Dirigent in ihrem Rücken steht, wird durch zahlreiche Monitore und die hervorragende Arbeit des Kodirigenten Vladimir Junyent in der ersten Zuschauerreihe ausgeglichen.

Bieito fokussiert die Geschichte auf die weibliche Hauptperson. Zu Beginn ist die Marie der Susanne Elmark noch ein naiver, ein wenig koketter Teenager im Schulmädchenlook (Kostüme: Ingo Krügler), der mit Baron Desportes (mit leuchtender Höhe: Peter Hoare) einen harmlosen Flirt beginnt, während ihr Verlobter Stolzius (mit viel Substanz: Michael Kraus) danebensteht. Elmarks glasklare Koloraturen erscheinen so leicht wie Vogelgezwitscher. Im Laufe des Abends wird das unschuldige Mädchen zur missbrauchten Frau. Marie wird begrapscht, ihrer Kleider beraubt und vergewaltigt. Susanne Elmark singt und spielt diese Passion mit einer bewundernswerten Hingabe, mit vielen Zwischentönen und Extremen. Am Ende wird die halbnackte Sopranistin mit Kunstblut übergossen und breitet christusgleich die Arme aus. Die von Zimmermann komponierte Apokalypse, zu der laut Partitur eine Atomwolke auf einer Leinwand gezeigt werden soll, ist in Bieitos Sicht die individuelle Katastrophe von Marie, die von einem kollektiven Aufschrei begleitet wird.

Auch wenn der Regisseur gerade in den letzten beiden Akten das Maß zu verlieren droht und Brutalitäten übertreibt – Charlotte (mit berührendem Mezzo: Julia Riley) wird die Zunge herausgeschnitten –, gelingt ihm insgesamt mit diesen „Soldaten“ eine schlüssige Sicht auf die Abgründe des Menschen.

Die Degeneration ist schon im Kleinen angelegt. Die Liebe des Vaters Wesener (etwas polternd: Pavel Daniluk) zu seiner Tochter Marie verschärft der Regisseur zu einem inzestuösen Verhältnis. Noëmi Nadelmann erscheint als Gräfin de la Roche nicht nur durch ihren durchdringenden Sopran als eine Art Domina. Als Marie von einem Soldaten am vordersten Bühnenrand vergewaltigt wird, hält die Gräfin sie gemeinsam mit der Andalusierin (Beate Vollack) fest. Aber auch die kollektiven Gewaltausbrüche sind nicht zuletzt durch die genaue Personenführung beklemmend.

Oben im Orchester herrscht bei den Soldaten Disziplin. Aber wehe, sie kommen frei aus diesem Stahlkäfig. Dann werden sie in den Massenszenen zu Bestien, die sich gemeinsam das nächste Opfer suchen. Georg Rudiger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false