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Der Schriftsteller Michael Köhlmeier

© picture alliance / dpa

Michael Köhlmeier: neuer Roman: Vom Umgang mit dem Fremden

Könnte das Buch der Stunde sein, entzieht sich aber bewusst der Tagespolitik: Michael Köhlmeiers neuer Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“.

Das hat man dem kleinen Mädchen eingebläut: Wenn jemand das Wort „Polizei“ sagt, muss es anfangen zu schreien, so laut wie möglich. Die Menschen sagen häufiger „Polizei“, und das Kind schreit. Aber wer hat ihr das erzählt? „Der Onkel“, so heißt der Mann. Bringt das Mädchen auf den Marktplatz, in irgendeiner Stadt. Es steht zu vermuten, dass es sich um eine deutsche Stadt handelt. Dann verschwindet der Onkel, und das Mädchen wird weitergereicht, gefüttert, fortgeschickt, verbringt eine Nacht im Müllcontainer, landet in einem Heim. Dort ist eine Schwester, die das Mädchen badet und wäscht. „Sie lobte die Haare. Weil man ihr gesagt hatte, das Kind verstehe ihre Sprache nicht, fiel es ihr besonders leicht, Gutes zu sagen.“ Das ist ein starker Satz. Er erzählt viel über den Umgang mit dem Fremden.

Es wäre nur allzu leicht, Michael Köhlmeiers neues Buch „Das Mädchen mit dem Fingerhut“, eher eine lange Erzählung als ein Roman, angesichts der aktuellen Flüchtlingssituation zum Buch der Stunde zu erklären, zusammen vielleicht mit Abbas Khiders „Ohrfeige“. Aber Köhlmeier entzieht sich bewusst jeder tagespolitischen Verbindungslinie, indem er seinem Text den Anstrich eines modernen Märchens gibt und ihm jede historischen Einordnung verwehrt. Und Köhlmeier hält sich streng an die erzählerische Neutralität, bleibt in der dritten Person und führt in nüchternen Parataxen durch ein Szenario, in dem das gegenseitige Nichtverstehen zum Prinzip wird.

Das Mädchen kann seinen Namen nicht sagen, also nennen sie es Yiza. Im Heim trifft Yiza, die etwa sechs Jahre sein dürfte, auf zwei ältere Jungs. Eine gemeinsame Sprache sprechen die drei Kinder nicht. Aber sie brennen zusammen durch, getrieben vielleicht von einer Sehnsucht nach einem besseren Leben. Dickens und Andersen lassen grüßen.

Michael Köhlmeier ist ein ungemein kluger, reflektierter Autor. In „Madalyn“ einem früheren Roman, hat er gezeigt, wie raffiniert man über ein kindliches Bewusstsein schreiben kann. An dem „Mädchen mit dem Fingerhut“ hingegen gibt es wenig Raffiniertes. Sicher, es kommt immer wieder zu entlarvenden Situationen: Die drei entwurzelten (aber deswegen nicht unschuldigen) Kinder werden zum Spiegel ihrer Umwelt, und in diesem Spiegel lässt sich erkennen, dass das Gute und das Gutmeinende auch stets etwas zutiefst Egoistisches in sich tragen. Ob es als letzten Beweis für diese Erkenntnis tatsächlich noch, schließlich sind wir im Märchen, den Auftritt einer Gegenwartshexe bedurft hätte, ist eine andere Frage.

Köhlmeiers Geschichte ist seltsam spannungslos und unentschlossen. Die Welt, wie sie sich seiner Protagonistin darstellt, bleibt ein dunkles Rätsel, in das hin und wieder Lichtpunkte hineinfallen; in der Identitätsschnipsel auftauchen und wieder verschwinden. Das ist das Prinzip des Romans, und es geht schief: Die Grenze zwischen Harmlosigkeit und Infantilität ist fließend. Christoph Schröder

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016.140 Seiten, 18,90 €.

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