zum Hauptinhalt
Mag Grenzüberschreitungen. Bildhauerin und Sängerin Michaela Meise, 38, bekommt den Falkenrot-Preis 2014.

© Doris Spiekermann-Klaas

Michaela Meise im Künstlerhaus Bethanien: Mutters Gesicht

Sie liest Liebeslyrik, singt Kirchenlieder und formt Keramikreliefs. Michaela Meise ist im Berghain wie im Künstlerhaus Bethanien zu erleben. Ein Atelierbesuch bei der Bildhauerin und Sängerin.

Die Frau hat sich etwas Unerhörtes erlaubt. Wahrscheinlich hätten es gar nicht so viele mitbekommen, wenn nicht einer ihrer Freunde, ein Rockstar, dabei mitgemacht hätte. Die Berliner Bildhauerin Michaela Meise nahm 2011 eine Platte mit katholischen Kirchenliedern auf. Mit engelsgleicher Stimme sang sie Lieder über Jesus und spielte dazu auf dem Akkordeon. Bei dem titelgebenden Track „Preis dem Todesüberwinder“, einer Lobpreisung Christi aus dem 17. Jahrhundert, singt sie mit Dirk von Lowtzow, dem Frontmann der Band Tocotronic, im Duett. Die Musikgemeinde war perplex – und verzückt. Nun stellt Michaela Meise ihr neues Album im Berghain vor. Dieses Mal geht es um Liebeslyrik aus der Antike. Die Frau hat wirklich Mut.

„Mich hat diese Kirchenmusik total irritiert. Ich kann das bis heute nicht einordnen“, sagt Cyrill Lachauer vom Dubplate-Label „Flipping the Coin“, das sich auf Musik von Bildenden Künstlern spezialisiert hat und diese als Edition in kleiner Auflage publiziert. Lachauer lernte Michaela Meise während seines Bildhauereistudiums kennen, diese hatte 2012 eine Vertretungsprofessur an der Universität der Künste inne. Die rätselhafte Musik der singenden Dozentin hat er nicht vergessen. Nun bringt „Flipping the Coin“ Meises neue Platte heraus. Mit drei befreundeten Künstlerinnen liest sie Liebesgedichte der griechischen Poetin Sappho und improvisiert dazu mit Akkordeon, Calimba, Zither und elektronischen Klängen.

„Die Musik ist eigentlich erst jetzt Teil meiner künstlerischen Produktion geworden“, sagt Michaela Meise. „Zuvor war es einfach ein Hobby. Oder auch eine Möglichkeit, mit Freunden Zeit zu verbringen“ Meise, 38, in Hessen geboren, hat an der Frankfurter Städelschule Kunst bei Ayse Erkmen studiert. Im Kunstbetrieb ist sie weniger für ihre Musik als für ihre an der Minimal Art geschulte Bildhauerei bekannt. Ihre Werke werden in Institutionen im In- und Ausland gezeigt und stehen bei Johann König, dem angesagtesten Galeristen Berlins, zum Verkauf. Im November bekommt Meise nun den privat finanzierten Falkenrot-Kunstpreis verliehen, der mit einer Soloschau im Künstlerhaus Bethanien einhergeht.

Ihre Kunst hat Haltung

Meise zeigt eine Serie mit Keramikreliefs, einige Tischgestelle und Collagen und präsentiert dazu Gemälde der längst vergessenen DDR-Malerin Kate Diehn-Bitt. Ihre Installationen sind oft gespickt mit Verweisen: Zeitungsausschnitte, Bücher, Namen, Porträts. Die Künstlerin legt alle Quellen offen, macht ihren Denkprozess transparent. So ergibt sich ein komplexer Referenzraum, in dem der Betrachter, je nach Tagesform und Konzentrationsfähigkeit, glücklich und inspiriert von einem Thema zum nächsten springt, oder haltlos herumirrt wie die Kugel in einem Flipper-Automaten. „Uns hat die Vielgestaltigkeit ihres Werkes überzeugt“, sagt Christoph Tannert, Leiter des Künstlerhauses und Initiator des Falkenrot-Preises. Das Arbeiten mit unterschiedlichen Medien wird in Meises Generation allmählich zur Konvention und doch hat sie vielen etwas voraus: „Bei Michaela Meise geht es immer um Inhalte. Ihre Kunst hat Haltung.“

Mittwochnachmittag in Michaela Meises Atelier. Die Künstlerin teilt sich den Raum in einem Kreuzberger Gewerbehof mit zwei ihrer Kunst- und Musikkolleginnen. Die beiden sind gerade nicht da. Meise und ihr Assistent kleben auseinandergefaltete Nespresso-Verpackungen auf Plexiglas-Platten. Die Stimmung ist konzentriert. Meise signiert noch schnell die Rückseiten der Tafeln. Der Assistent wischt die letzten Fingerabdrücke fort. Dann werden die neuen Kunstwerke in Plastikfolie gehüllt und in Transportkisten gelegt. Von der Aura des Kunstwerks ist hier nichts zu spüren. Es ist Basisarbeit im Atelier. Unglamourös. Genau darauf will Meise in ihrer Arbeit oft hinaus. Kunst ist von Menschen gemacht, das Ergebnis eines physischen Prozesses. Interessant wird es dann, wenn man hinter die Codes und Konventionen der Dinge schaut. „Ich merke, ich fühle mich von Werbung angezogen, die Luxus und Gemütlichkeit suggeriert“, sagt Meise. „Und ich will wissen, warum das so ist.“ Layout, Farbe Schrift – all das kann man analytisch auf seine Bedeutung abklopfen. Barocke Kirchenlyrik ist für die praktizierende Katholikin ebenso ein Zeitdokument wie die Gestaltung einer Nespresso-Verpackung. Meise betrachtet beides mit demselben Abstand, derselben Neugier. Diese forschende Distanz ist wohl der Grund, warum sie Respekt erntet. Wenn sie Kirchenlieder singt, nimmt man ihr das genauso ab, wie wenn sie zwei Bretter gegeneinanderlehnt und in den Galerieraum stellt.

Die mit Porträts beklebten minimalistischen Stelen wären fast ihr Markenzeichen geworden, doch just als der Kunstmarkt darauf ansprang, begann Meise, ihre Praxis zu hinterfragen. Was ist Minimalismus, was ist ein Porträt, und warum interessiert mich das? „Es war an der Zeit selber Porträts zu machen, anstatt sie aufzukleben“, sagt sie.

So kam sie auf die Idee für ihre jüngste Arbeit und einen neuen Werkstoff – eine Serie von Keramikreliefs mit dem Titel „Mütter“. Die Fragestellung dahinter: Wo kommen wir her, wer verdient unseren Respekt? Von ihren Freundinnen lässt sie sich deren Mütter beschreiben: Haut, Haare, Augen, Gesicht – wie genau sieht deine Mutter aus, wie lebt sie? Es sind intime Fragen, die Meise den Freundinnen stellt. Wer ist die eigene Mutter – als Körper, als Struktur, als Konzept? Zunächst hat sie es bei sich selbst ausprobiert, sich ihre Mutter vorgestellt, dann aus Ton ein klobiges Rechteck geformt, die Gesichtszüge der Mutter hineingeritzt, das Ganze glasiert und gebrannt. So hat sie es auch mit den anderen Müttern gemacht. Die Serie ist nun erstmals im Künstlerhaus Bethanien zu sehen. Seit drei Jahren beschäftigt sie sich mit der formalen Struktur von Gesichtern. In ihrem Atelier liegt ein Porträt, das ihr ganz besonders am Herzen liegt, es zeigt die Philosophin und Feministin Luce Irigaray. Meise hat sie im ICE porträtiert, den Tonklumpen auf dem Schoß. Es war die einzige Möglichkeit.

15.11., 20 Uhr: „Flipping the Coin“- Nacht, Berghain Kantine, Am Wriezener Bahnhof; 20.11.–14.12.: Künstlerhaus Bethanien, Kottbusser Str. 10, Di–So 14–19 Uhr

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false