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Kultur: Mikrokosmos Mensch

Sie sind seit längerem allabendlich zur Stelle, die Dokumentarfilm-Kenner.Was bisher nur in den USA zu sehen war, hat ihnen das Arsenal in den letzten Wochen geboten: eine umfassende Retrospektive des niederländischen Dokfilm-Meisters Johan van der Keuken.

Sie sind seit längerem allabendlich zur Stelle, die Dokumentarfilm-Kenner.Was bisher nur in den USA zu sehen war, hat ihnen das Arsenal in den letzten Wochen geboten: eine umfassende Retrospektive des niederländischen Dokfilm-Meisters Johan van der Keuken.20 Filmabende mit den großen Werken und kurzen Filmen, Ausflüge in die Mikrokosmen des Menschen (Blinde, Kinder), des Ortes (Amsterdam, Ägypten, Indien, Lateinamerika, Libanon), der Dichtung (über die Lyriker Bert Schierbeek und Lucebert) und der Musik (Ben Webster und Charles Ives).

Van der Keuken, Jahrgang 1938, ist mehr als ein Regisseur.Bekannt wurde er als junger Photograph, der mit dem Band "Wir sind 17" die bieder-verstaubte Welt der Niederlande in den 50er Jahren schockierte.Was er zu jener Zeit in der Clique gelangweilt-rebellierender junger Leute war, blieb er auch als Filmemacher: teilnehmender Beobachter mit Nähe zum Thema, ohne ganz von ihm aufgesogen zu werden.Van der Keuken dreht selbst, ohne Stativ, ohne Teleobjektiv, die Kamera direkt am Körper."Direct camera" nennt er es selbst, manchmal eigenwillig experimentierend und wirr.Politik, wirtschaftliche Abhängigkeiten und Kolonialismus waren für ihn prägende Themen.Zu Agit-Prop wurden seine Filme nie, wenn auch im vergangenen Jahrzehnt der Ton ruhiger, die Distanz etwas größer wurde.

Am Wochenende steht der Abschluß der vom Arsenal gemeinsam mit der Niederländischen Philologie der FU Berlin veranstalteten Reihe auf dem Programm: mit den großen Filmen "Face Value" und "Brass Unbound".Beide sind zentralen Themen in Van der Keukens Oeuvre gewidmet, der selbst Rede und Antwort stehen wird.Während viele seiner früheren Filme an Einzelbeispielen die Wirklichkeit der Globalisierung zeigten, bevor das Wort in Mode war, wagte der Filmer des Jahrgangs 1938 diesmal den großen Wurf einer Weltgeschichte aus persönlicher Sicht: die Geschichte der Blasmusik.Kolonialismus ist das auch hier das Thema, aber nicht als rein ökonomisches Phänomen, sondern als Grundlage kulturellen Transfers.Die Blasmusik hat Wurzeln in Afrika, sie kam nach Europa und Amerika, und kehrte von dort nach Afrika zurück, verändert, bereichert, fremd-vertraut zugleich.

"Face Value", produziert 1990/91, zeigt ein Bild der Umbruchzeit nach 1989.Nicht Politik und Diplomatie, sondern Menschen im Alltag der Umwälzung.Wie immer geht van der Keuken dicht heran, blickt direkt in die Gesichter des gewandelten Kontinents."Face Value" ist ein verfilmtes Wortspiel: Es bedeutet "bare Münze", mit der Möglichkeit der Täuschung durch den Anschein.Aber auch "Wert des Gesichts", weder abhängig vom Urteil des Betrachters noch von den politischen Rahmenbedingungen.Wie viele der Van der Keuken-Filme also ein Film auch über die Menschenwürde.

Arsenal, Welserstraße 25 (Tel.219 001-0), Sonnabend, 19 Uhr: "Brass Unbound" (1993), Sonntag, 21 Uhr: "Face Value" (1991), jeweils in Anwesenheit des Regisseurs.

PAUL STOOP

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