zum Hauptinhalt
Polyphone Stimmenführung über ironischem Grundton. Milan Kundera.

© Catherine Hélie/Gallimard/Hanser

Milan Kunderas jüngster Roman: Die Nabelprobe

Zwischen Kontingenz und Inkontinenz: Milan Kundera feiert in einem unendlich heiteren Altersdivertimento „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“.

Von Gregor Dotzauer

Letzte Worte waren ihm von jeher zuwider. Milan Kundera erging sich, wo immer es ihm gelang, im Lob des Vorläufigen, eines Stoffes, der mit zunehmendem Alter bekanntlich rasant schwindet. Was also, wenn die kleine Rede, die er am Ende seines Romans „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ einem gewissen Ramon in den Mund legt, tatsächlich die letzte Äußerung des bald 86-Jährigen wäre?

„Die Bedeutungslosigkeit“, erklärt Ramon, den man nach einer winzigen Buchstabenvertauschung auch als Hüter des Romans schlechthin verstehen könnte, „ist die Essenz der Existenz. Sie ist überall und immer bei uns. Sie ist sogar dort gegenwärtig, wo niemand sie sehen will: in den Greueln, in den blutigen Kämpfen, im schlimmen Unglück. Das erfordert oft Mut, sie unter so dramatischen Umständen zu erkennen und bei ihrem Namen zu nennen. Aber es geht nicht nur darum, sie zu erkennen, man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben.“

Wie schwer dieses bei einem Spaziergang im Jardin du Luxembourg mit unendlicher Heiterkeit vorgetragene Bekenntnis auch wiegen mag, weil es selbst unter das Verdikt der Bedeutungslosigkeit fällt, es geht über das hinaus, was Milan Kundera in einem kanonischen Essay als „Die Kunst des Romans“ definiert hat. Denn der Roman ist für ihn zwar eine Relativitätserzeugungsmaschine, doch keine Sinnvernichtungsanstalt. Sein Daseinsgrund besteht darin, etwas zu sagen, „was allein der Roman sagen kann“.

Er lebt von der „Weisheit der Ungewissheit“, die an die Stelle einer absoluten Wahrheit eine Menge widersprüchlicher Wahrheiten setzt. Die Stimmen seiner erzählerischen Polyphonie verflicht er zu einer Musik von der „essentiellen Relativität der menschlichen Dinge“, die wiederum nicht im Roman aufgeht, weil es sich um einen Erkenntnismodus handelt, der, vom „Geist der Komplexität“ beseelt, in der Schwebe hält, was in der Philosophie nur wahr oder falsch sein darf.

Milan Kundera, der Mann, der aus Prinzip alle Prinzipien ablehnt, reiht sich ein in eine Tradition, als deren frühe Höhepunkte er Miguel de Cervantes’ „Don Quijote“ und Denis Diderots „Jacques der Fatalist und sein Herr“ verehrt, um dann Franz Kafkas Schuldgebirge und Hermann Brochs Irrationalitätslabyrinthe zu durchqueren – Textlandschaften, die noch vor den bittersten Zeiten des 20. Jahrhundert entstanden.

Ihnen hat Kundera, 1929 im mährischen Brünn geboren und aufgewachsen, in seinen eigenen Romanen eine mitteleuropäisch-tschechische Spielart hinzugefügt, die im tiefsten Kalten Krieg den Doktrinen des sozialistischen Realismus ein ironisches Schnippchen schlug, bevor er 1975 ein ihn erstickendes Prag verließ und nach Paris zog. „Der Scherz“, „Das Leben ist anderswo“ und „Abschiedswalzer“ heißen die ebenso anmutigen wie frivolen Romane, in denen er, nach einem frühen Flirt mit dem Kommunismus, seine Gesellschaft porträtierte: Werke, denen 1984 sein letzter auf Tschechisch geschriebener Welterfolg „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ folgte. 1990 wechselte er mit der „Unsterblichkeit“ ins Französische.

Das Buch platzt aus allen anekdotischen Nähten

Von Prag nach Paris. Milan Kundera 1981.
Von Prag nach Paris. Milan Kundera 1981.

© dpa/picture-alliance

„Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ führt sechs männliche Hauptfiguren mittleren Alters ein, die in unterschiedlichen Konstellationen aufeinandertreffen. Alain, dessen Denken und Wähnen um die Frage kreist, was es bedeutet, wenn eine Epoche ihre erotische Aufmerksamkeit von den Brüsten und Schenkeln junger Mädchen hin zu deren nackten Näbeln verlagert. Den erwähnten Ramon, der entschlusslos vor den Toren einer lockenden Chagall- Ausstellung herumstreicht. Einen Cocktailpartys organisierenden Charles. Dann Caliban, einen kellnernden Schauspieler, der sich am liebsten in einer erfundenen Sprache verständigt. Quaquelique, den Schürzenjäger. Und D’Ardelo, der sich eine tödliche Krebserkrankung erfindet und von seiner Lüge geradezu begeistert ist.

Dazu gesellen sich einige noch vager konturierte Frauengestalten, eine Handvoll philosophischer Reflexionen, die von Schopenhauers Idee des Willens bis zu Hegels Begriff des Komischen reichen, und ein Geschehen, das nicht der Rede wert ist. Recht eigentlich hat dieser Roman gar nichts von dem, was Kundera seine Themen nennt. Er ist, aus allen anekdotischen Nähten platzend und motivisch, doch virtuos zusammengehalten, eine einzige Abschweifung, darin aber ein einziges Vergnügen – und das nicht ohne einen Ernst, der noch die größte Ironie durchwirkt.

Oder was ist es, wenn die Geschichte einer jungen Frau erzählt wird, die sich und ihr ungeborenes Kind wild entschlossen zu ertränken versucht, bis ihr ein Mann zu Hilfe springt, den sie nun gewaltsam ertränkt, um einer Absicht treu zu bleiben, der sie nicht mehr folgen kann? Nass und frierend schleppt sie sich ans Ufer, in der Nacktheit eines Lebens, dessen Bedeutungslosigkeit durch die Schuld, das es auf sich geladen hat, überraschend Bedeutung gewonnen hat. Was ist es, wenn Väterchen Stalin, der einen ausgeprägten Sinn für Massaker hatte, nachgesagt wird, seine feinsinnigste Demütigung am prostataschwachen Genossen Kalinin verübt zu haben, indem er ihn aus der Gegenwart seiner Witze und Schnurren nicht entließ, ehe ihm ein Malheur geschehen war. Es ist die Vereinbarkeit des Unvereinbaren, in der sich der alte Begriff des Schicksals mit dem neuen der Kontingenz trifft und in einem Motiv wie der Inkontinenz gebrochen wird.

Milan Kundera zeigt, wozu Romane in der Lage sind, die noch ein gattungsgeschichtliches Bewusstsein mitbringen – das allerdings nicht im Sinne eines Fortschritts, an dem noch jede Kunst gescheitert ist, wie besonders die Musik schmerzhaft erfahren musste, sondern im Namen einer Freiheit, die sich so klug nur die Wenigsten zu nehmen wissen. Fragwürdig wird es da, wo dieses Buch so tut, als stamme es von einem alterslosen Autor, ja, als müsse es sich inmitten der Katastrophen und Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts in seinen Strategien nicht anders situieren als noch vor 30 Jahren.

Für sich allein betrachtet, würde kaum jemand auf die Idee kommen, dass es sich um ein Spätwerk handelt, besäße es nicht eine gewisse Kurzatmigkeit, die die berühmte siebenteilige Form, auf die Kundera meistens zurückgreift, nur noch unter Mühen erreicht. Auch das erotische Fluidum, das der Text verströmt, wären dem jugendlichen Kundera zuzutrauen, könnte man hinter der sanften Anzüglichkeit des Textes nicht eine äußerst unkeusche Geilheit erkennen: Michel Houellebecqs offensive Obszönität ist da ehrlicher. Schließlich variiert Kundera einige seiner eigenen Lieblingsmotive.

Wenn Stalin seinem Adlatus Schdanow erklärt, dass er seinen ungeheuren Willen den Vorstellungen aller anderen aufgezwungen habe, um Ordnung in das Chaos zu bringen, wird damit das totalitäre Programm benannt, das Kundera zeit seines Lebens multiperspektivisch bekämpfte. Wenn Ramon über die „Dämmerung der Scherze“ trauert, variiert er, was Kundera in seinem Essay „Verratene Vermächtnisse“ beklagt. Und wenn Alains Mutter predigt, dass der Mensch, so wie er als Einzelner in Erscheinung tritt, weder sein Geschlecht noch seine Augenfarbe geschweige denn sein Jahrhundert und seine Heimat wählen könne, ist das ein fast wörtliches Echo dessen, was in der „Kunst des Romans“ steht.

Imre Kertész fühlt sich von der "Kunst des Romans" befremdet

In einem Prager Garten. Milan Kundera im Jahr 1973.
In einem Prager Garten. Milan Kundera im Jahr 1973.

© AFP

Es ist ein sprechender Zufall, dass Imre Kertész gleich auf der ersten Seite seines gerade erschienenen Tagebuchromans „Letzte Einkehr“ (rororo), in dem er seine gleichnamigen Aufzeichnungen unter Verzicht auf alle Tagesdaten noch einmal zu einem mehr denn je ergreifenden autofiktionalen Geflecht verdichtet, Kunderas Essay angreift. „All die bekannten Gemeinplätze, aber mit französischer Eloquenz“, stöhnt er, und wenn das in Bezug auf die Substanz des Buches auch ungerecht ist, so zeigt sich darin doch eine Haltung, die aus vergleichbaren historischen Erfahrungen entgegengesetzte ästhetische Schlüsse zieht.

Beide Autoren gehören dem Jahrgang 1929 an, beide haben sowjetische Panzer in ihre Länder vorrücken sehen: Kertész beim ungarischen Volksaufstand 1956, Kundera beim Prager Frühling 1968, beide haben das Exil gesucht. Man mag den entscheidenden Unterschied zwischen ihnen darin sehen, dass Kertész’ Werk, auch wo es nicht offen davon spricht, im Zeichen der persönlichen Erfahrung von Auschwitz steht. Doch hat nicht auch in Kunderas Literaturverständnis der Zivilisationsbruch seinen Platz?

Hier also der nach außen hin verspielte Bruder Leichtfuß, dort der jüdische Moralist ohne Gott; hier der sich als Person nach Kräften aussparende, dort der sich mit Haut und Haar investierende Autor; hier ein aparter Ton, dort kristalline Härte. Es gibt keinen zwingenden Grund, sich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen. Die Entwicklungsgeschichte des europäischen Romans verläuft nicht linear. Ihr Wohl und Wehe lässt sich, worauf Kertész auch in „Letzte Einkehr“ noch einmal insistiert, schon an gar keine bestimmte Ästhetik knüpfen.

Es wird sich aber zeigen, welches Schreiben überhaupt noch imstande ist, dem Grundrauschen anschwellender Textströme Paroli zu bieten, welche Ironiesümpfe es trockenzulegen und welche es zu nähren gilt, kurz: was Literatur auf Dauer dazu befähigt, sich als Sprache des Widerstands zu bewähren.

Milan Kundera: Das Fest der Bedeutungslosigkeit. Roman. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Hanser Verlag, München 2015. 140 Seiten, 16,90 €.

Zur Startseite