zum Hauptinhalt

Kultur: Milzbrand: Ein Anschlag auf die Nerven. Für die New Yorker schien sich am Freitag der Wahnsinn vom 11. September zu wiederholen - in Form des Bioterrors

Der Freitagmorgen begann für die meisten New Yorker mit zwei Worten: Red Alert, Alarmstufe rot, schrie in überdimensionalen roten Buchstaben die erste Seite des Boulevardblatts New York Post, an jedem Kiosk, in jeder U-Bahn, in den Taxen, in den Büros nur diese zwei Worte. Am Abend zuvor hatte die Bundespolizei FBI gewarnt, dass "weitere Attacken sehr wahrscheinlich seien in den nächsten paar Tagen", und ein Journalist in New York erfuhr von einer Quelle innerhalb des israelischen Geheimdienstes Mossad, er solle seine Recherchen vergessen an diesem Wochenende und bloß zu Hause bleiben.

Der Freitagmorgen begann für die meisten New Yorker mit zwei Worten: Red Alert, Alarmstufe rot, schrie in überdimensionalen roten Buchstaben die erste Seite des Boulevardblatts New York Post, an jedem Kiosk, in jeder U-Bahn, in den Taxen, in den Büros nur diese zwei Worte. Am Abend zuvor hatte die Bundespolizei FBI gewarnt, dass "weitere Attacken sehr wahrscheinlich seien in den nächsten paar Tagen", und ein Journalist in New York erfuhr von einer Quelle innerhalb des israelischen Geheimdienstes Mossad, er solle seine Recherchen vergessen an diesem Wochenende und bloß zu Hause bleiben. Es sei zu gefährlich. Soldaten der National Guard kontrollierten Brücken, Bahnhöfe und U-Bahnen.

Zum Thema Online Spezial: Kampf gegen Terror Schwerpunkt: US-Gegenschlag, Nato und Bündnisfall Schwerpunkt: Osama Bin Laden Schwerpunkt: Afghanistan Schwerpunkt: Islam & Fundamentalismus Schwerpunkt: Innere Sicherheit Chronologie: Terroranschläge in den USA und die Folgen Fotostrecke: Bilder des US-Gegenschlags Umfrage: Bodentruppen nach Afghanistan? Das war die Situation an diesem Freitagmorgen in New York, und dann wurde es ein Uhr Mittag am Rockefeller Center, Ecke Fifth Avenue und 50. Straße, im berühmten GE Gebäude, dritter Stock, die Redaktion von Nightly News, ein Nachrichtenprogramm des Senders NBC. Die Schauspielerin Drew Barrymore, die wenig später auf Sendung gehen sollte, rannte aus den NBC-Räumen raus auf den Rockefeller Plaza, wo bald wahr zu werden schien, was die New Yorker am meisten fürchteten, ihr übelster Albtraum: ein Bioterrorismus-Angriff. Eine Assistentin des Nightly News Moderators Tom Brokaw ist im Krankenhaus, infiziert, heißt es, mit Anthraxbakterien, von Zufall könne nach den drei Fällen in Florida keine Rede mehr sein. Es handelt sich um eine "abscheuliche, ekelhafte Attacke, die er in allgemein akzeptierbaren Worten nicht mehr beschreiben könne", sagt Moderator Brokaw später im Fernsehen über den Angriff, der wohl ihm galt. Die Stimme des sonst verbindlichen Moderators vibriert, man hört den Hass, ein hilfloser Hass, möglicherweise gegen irgend jemanden in St. Petersburg, Florida, der vor zwei Wochen einen Brief an Brokaw schickte. Dieser Brief enthielt weißes Pulver und eine Drohung, die weitere Attacken ankündigte. Die Assistentin, deren Identität der Sender nicht preis gibt, machte den Brief auf und nahm das Bakterium durch ihre Hände auf.

Agenten in Schutzanzügen

Keine zehn Blöcke weiter südlich vom Rockefeller Center, auf der 43. Straße in der Redaktion der New York Times kommt an diesem Freitag ein Brief an für Judith Miller, eine Expertin der Zeitung für Bioterrorismus. Auch dieser Brief kommt aus St. Petersburg in Florida und die Handschrift auf dem Umschlag scheint die selbe zu sein. Und auch aus diesem Brief rieselt ein weißes Pulver. Zehn Minuten später ist die Redaktion evakuiert, das FBI ans Telefon geholt, Agenten in grünen Schutzanzügen in der Redaktion und die Poststelle geschlossen. Auf unbestimmte Zeit. Und während andere Fernsehstationen wie CBS und ABC und auch der große New Yorker Buchverlag Random House ihre Poststellen schließen, kommt die nächste Katastrophenmeldung: Der Times Square, das Herz von Midtown Manhattan, ist weiträumig abgesperrt, keiner kommt mehr durch. "Anthrax im Times Square", schreit eine Passantin an den Absperrungen, doch es ist eine Bombendrohung - fast eine Erleichterung - die sich später als falscher Alarm herausstellt.

Nun, am frühen Nachmittag, hallt das Wort Anthrax durch die Stadt wie eine Sirene der vielen Polizeiwagen, vor dem Rockefeller Center sind Absperrungen aufgebaut, am Eingang stehen Polizisten in Zivil, drinnen ist das FBI, wie einer der Polizisten sagt. Das dritte und das siebte Stockwerk sind versiegelt. Die Gesundheitsbehörde testet NBC-Angestellte auf Anthrax, manche behandeln sie vorsorglich mit Antibiotika. In der Eingangshalle vor den Fahrstühlen sitzt Jackie, die jeden, der in den Fahrstuhl will, kontrolliert. Sie trägt Gummihandschuhe, sie wolle sich hier nichts holen. An Bushaltestellen drängen sich die Leute in Schlangen - niemand will in die U-Bahn, dort gibt es eine Klimaanlage und in die könnte jemand theoretisch Anthraxbakterien einschleusen, sagt eine Frau in der Schlange.

Zwischen Panik und Vernunft

In einem Großmarkt ist das Wasser ausverkauft, genauso Antibiotika in Apotheken, Arztpraxen sind belagert. Es herrscht eine merkwürdige Zerrissenheit unter den Menschen in New York, ein Schwanken zwischen Panik und Vernunft.

Als das Rockefeller Center später wieder öffnet und sich langsam der Abend senkt über den dramatischsten Tag in New York seit dem 11. September, verlesen die Nachrichtensprecher eine Nachricht aus Reno im Bundesstaat Nevada: Die Firma Microsoft hätte einen merkwürdigen Brief bekommen, der offenbar in einen Flüssigkeit getunkt wurde, der erste Test auf Anthrax sei positiv. Später in der Nacht kommt das zweite Testergebnis, diesmal ist es negativ. Es ist genau diese Verwirrung, die auch New York beherrscht.

Philipp Oehmke

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false