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Kultur: Mir nichts, dir nichts

Tanz im August in Berlin: Lesgart und Sanguinetti kämpfen mit Argentinien, Constanza Macras träumt von einer Raumstation

Argentinien hat traurigen Modellcharakter erworben. Allem Gehorsam gegenüber den internationalen Finanzlenkern zum Trotz ist die Volkswirtschaft des einstigen südamerikanischen Musterstaates zerrüttet, die Bevölkerung verarmt, der Mittelstand am Boden. Argentinien steht für die Verheerungen eines globalen Kapitalismus. Selbst die Produktionsgelder, mit denen das Hebbel-Theater die Entstehung des Tanzstücks „Canalla" unterstützt hat, konnten nicht auf dem üblichen Bankwege nach Buenos Aires überwiesen werden, weil die Finanzinstitute entweder bankrott sind oder kein Geld auszahlen durften.

Dennoch ist die Arbeit der argentinischen Tanzkompanie um Gustavo Lesgart und Ines Sanguinetti zustande gekommen und wurde jetzt im Rahmen von Tanz im August uraufgeführt. „Canalla“ lässt sich wörtlich mit „Kanaille“ übersetzen, bedeutet aber auch so viel wie schurkisch, niedrig. Es ist also ein Wort, das die jüngsten gesellschaftlichen Erfahrungen des Landes zusammenfasst: maßlose Entäuschung und hilflose Wut angesichts eines groß angelegten Betruges.

Diese zeitgeschichtliche Folie muss man dem 50-minütigen Tanzstück unterlegen, um die bisweilen derbe Bildfindung und drastische Bewegungssprache einzuordnen. Das Bühnenbild (von Alberto Negrin) macht es vor: Ganz langsam wird ein Hintergrundprospekt hochgezogen, er ist schlierig und in schmutzigem Graugrün gehalten, und am Ende rinnt Regenwasser an ihm hinab. Viel bleibt nicht übrig vom Traum einer zivilen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Zuvor aber hat man Gelegenheit, die vier Ensemblemitglieder und den mittanzenden Choreografen Gustavo Lesgart bei einem Parcours zu beobachten, der in allgemeinem Misstrauen und mit Kampfeslust beginnt, um in verstörter Erschöpfung zu enden. Dazu zieht die Musik alle Register, von sanftem Rumba über grollende Bässe bis zu knarzendem Tango und Blechbläser-Stößen.

Die Körper werfen sich gegen einander, rempeln, drängen, schubsen so lange, bis sich einer als Sündenbock herauslöst. Den begaffen die anderen dann wie Büchners Arzt sein Versuchstier Woyzeck. Oder sie machen einen schmächtigen Rothaarigen zum Popanz, der anfangs verzagt vor sich hin singt: „porque no puedo ser feliz“, weil ich nicht glücklich sein kann. Dann kommt die Gruppe und verbiegt ihn mit Knüffen und Schlägen in die seltsamsten Posen. Ihr Opfer aber lässt alles über sich ergehen - „die wunderbare Fähigkeit, sich an das Leiden zu gewöhnen“, heißt die zynische Szenenbeschreibung dazu.

Der Schluss gehört - unvermeidlich wohl für eine argentinische Tanzproduktion - einem Tango-Thema. Mann und Frau begegnen sich, wollen sich, stoßen sich ab, können nicht von einander lassen. Auch nicht, als schon Blut fließt. Wer 1999 Lesgart/Sanguinettis klaustrophobische Arbeit „Hondo“ gesehen hat, wird sich jetzt bei „Canalla“ die Augen reiben. Ihr neues Stück führt in unheilvolle Weiten.Franz Anton Cramer

Heute um 20.30 Uhr, Hebbel-Theater

Euphorische Techniker rühmten sie als das sicherste Verkehrsmittel dieses Universums – trotz einer Serie von über 1500 haarsträubenden Pannen. Politischen Romantikern galt sie als Russlands letzter Vorposten im All. Geblieben ist den Verehrern nur die Erinnerung an die Raumstation MIR, die am 23. März 2001 gezielt zum Absturz gebracht wurde. Der Choreografin Constanza Macras dient das bemannte Flugobjekt als schwankende Aussichtsplattform: „Wie die Liebe balanciert auch die Raummission der MIR ständig auf der Schwelle zum Scheitern“, sagt sie. Wie es nach dem finalen Absturz weitergeht, zeigt jetzt der Endpunkt ihrer MIR-Trilogie: „#3 Durchhalten".

Ein Abend der Übriggebliebenen: Unter dem funkelnden Firmament, das eine ächzende Discokugel an die rissige Decke der Sophiensäle wirft, drehen sich zwei ältere Damenpaare. Kennengelernt haben sie sich bei der Stepptanzgruppe Karlshorst, und irgendwie sind ihnen die Männer in ihrem Leben verloren gegangen. Ein griechischer Lastwagen, eine alte Jogginghose oder eine jüngere Frau tauchten unerwartet auf - und schon war die vertraute Umlaufbahn gestört. Die MIR konnte sich 15 Jahre, 1 Monat, 3 Tage, 8 Stunden und 28 Minuten im Orbit halten. Keine wirklich lange Zeit, wenn man die vier Stepptänzerinnen so sieht. Sie springen Seil und notieren Einkaufslisten mit dem zarten Stoizismus der Überlebenden - und verziehen keine Miene, wenn die Jugend um sie herum sich wieder krachend zu Boden befördert.

Macras, als Trash-Queen geliebt, schickt ihre Tänzer stürzend durch ein Bühnengewirr zwischen Dämmerstätte und Entertainmenthölle. Der Weg führt von der Fönhaube zum Kopfhörer, vom Selbstmordversuch zum Videogucken und wieder zurück. Doch unterhaltsam ist das selten, ironisch fast nie. Der Wartestand - ein öder Raum. „Es ist nicht unbedingt so“, singen die Stepptänzerinnen noch einwendend im Chor. Und dann ist mir nichts, dir nichts der Abend rum. Draußen flimmern die Sterne über der Erde, die die MIR 86 331 Mal umrundete. Ulrich Amling

Heute, 20.30 Uhr, Sophiensäle

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