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Kultur: Mirakel des Minerals

Ein

von Peter von Becker

Es war die Antwort des Jahres, nach dem Auftritt des Jahres. Als der Philosoph Peter Sloterdijk nach Gerhard Schröders Tigernummer in der Elefantenrunde gefragt wurde, ob der Kanzler am Realitätsverlust leide, sagte er: Im Gegenteil, er genieße ihn. Schröder habe an jenem Abend gemerkt: Es geht auch ohne Realität. Jedenfalls eine Weile. Auch Woody Allen hat einmal bekannt, er hasse die Realität. Aber, hat der filmische Illusionskünstler dann hinzugefügt: „Wo anders als in der Realität kriegt man schon ein gutes Steak?“

Wir wissen nun nicht, wo der Kanzler in spe a. D. noch sein Steak oder einen guten Bordeaux herkriegt. Andererseits haben die gut unterrichteten Kreise längst gemeldet, dass vor dem unvergesslichden TVAuftritt nur Kaffee und – wie in all den Wahlkampfwochen – jede Menge Mineralwasser im Spiel gewesen sei. Wasser! Nur Mineralwasser! Welche bislang ungeahnten Wirkungen mögen sich in den Gesundbrunnen unserer Berge und Bäche, in Magnesium, Natrium und irgendwelchen Kohlensäuren verbergen? Zumal der öffentliche Mineralwasserverbrauch dank unergründlicher kultureller Trends offenbar unaufhaltsam zunimmt. In grüner Vorzeit war es einmal das Stricken. Da wurde in Uniseminaren, Bundesbahnzügen oder an Kaffeehaustischen plötzlich gestrickt. Jetzt aber ist es die Wasserwelle. Überall tragen sie Wasserflaschen mit sich, erwachsene, an der Flasche nuckelnde Männer und Frauen – als drohten in Bussen, U-Bahnen, Kaufhäusern, auf Flughäfen oder Parkbänken jederzeit Durstepidemien. Als grenzten unsere regenreichen Breiten bereits an die Sahelzone. Sogar auf Kunstmessen wie zuletzt bei der Art Berlin sitzen Galeristen vor 30000- Euro-Bildern mit ihren Plastikbotteln – manchmal reicht es gerade noch zu einer gläsernen Flasche San Pellegrino.

Nur Peter Stein, der in Berlin gerade Abend um Abend den ganzen Schillerschen „Wallenstein“ liest, verschmäht trotz stundenlanger Stimmakrobatik das Lesungs-Mineral. Passt da das stille Wasser nicht zum sprudelnden Stein? Doch jene Wasser gründen tief – und das Sprichwort rührt her von einem heute vergessenen Theaterdichter und Generationsgenossen Schillers. Er hieß Friedrich Ludwig Schröder. Ja, wirklich: Schröder!

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