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Missbrauch und Therapie: Reise ins Unsagbare

Therapien für Missbrauchsopfer sind eine extreme Herausforderung. Eine Heilung ist schwer, die Opfer kapseln sich ein. Bericht von einer Tagung in Berlin.

Von Caroline Fetscher

Jenseits der Internatsmauern, fern von Sakristei und Sportplatz, geschehen rund vier Fünftel aller Missbrauchsfälle – in den Familien. Die Dunkelziffer liegt für Deutschland bei weit über 200 000 Fällen im Jahr, in sämtlichen Milieus können Kinderzimmer, Badezimmer, Kellerräume, Schlafzimmer zu Tatorten werden. Davon, was in diesen privaten Katakomben der Gesellschaft passiert, erfährt die Öffentlichkeit ungleich weniger als von den Übergriffen in Institutionen. Was „Missbrauch“ überhaupt bedeuten kann, das wiederum weiß kaum eine Berufsgruppe besser als die der Therapeuten, die sich mit Betroffenen auf deren von Ängsten und Fährnissen geprägten Weg zur Genesung oder Besserung begeben.

Mehrmals hatte die junge Frau berichtet, dass ihr älterer Bruder zu ihr gekommen war. Was sie damit meine, erkundigte sich der Therapeut eines Tages. „Er hat mit mir geschlafen“, war die Auskunft, als sei das Unsägliche etwas Alltägliches. Genau das war es für dieTochter aus wohlhabendem Elternhaus, seit ihrem achten Lebensjahr. Dem Berliner Psychoanalytiker Bernd Nissen, der davon bei der Tagung „The Emerging of the Self“ in Berlin berichtete, war ein Rest von verblüfftem Innehalten anzumerken. „Was?“, hatte er bei der Sitzung entsetzt gefragt, und damit eine Krise ausgelöst, die erst panischen Rückzug bewirkte, dann Annäherung.

Auf der fünften internationalen Konferenz zum Werk der Kindertherapeutin Frances Tustin diskutierten am Wochenende im Wilmersdorfer Logenhaus rund 200 Experten, darunter mehr als dreißig aus Israel. Eingeladen hatte die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV). Das Thema: Störungen des Selbsts, die mit autistischer Einkapselung einhergehen, wie sie auch bei Missbrauchsopfern vorkommen. Nissens Patientin, aufgewachsen in dem für Missbrauch typischen Klima, das gesunde Abgrenzung verhindert, war eine enorme Herausforderung für den Analytiker, wie jeder Patient mit traumatischer Geschichte. Auf das Leid der jungen Frau reagierte der Therapeut empathisch. Als sie selber kurz übergriffig wurde, entwickelte er plötzlich starken Ekel und Abwehr. Gerade durch diese irritierende Reaktion aber erhielt Nissen den Schlüssel zur inneren Welt der jungen Frau. Fast physisch konnte er die Schwere ihrer Beschädigung nachvollziehen.

Solche dynamischen Prozesse sind es, das zeigt die therapeutische Praxis, mithilfe derer die Seele der Beschädigten tatsächlich erreicht werden kann und die allmählich Ent-Schädigung in Gang bringen. Kein Hebel, weder ein chemischer noch ein seelischer, lässt sich bei Traumatisierten umstellen, keine „Kurzzeit-Intervention“ kann ihr symbolisches Vakuum füllen oder das Trauma schwinden lassen.

Nachhaltige Therapie braucht Zeit. Zerstörtes Vertrauen, über Jahre entstanden und oft über Jahrzehnte konserviert, erfordert eine längere Behandlung, stellt Ursula Reiser-Mumme fest, Leiterin des Berliner Karl-Abraham-Instituts der DPV. Notwendig ist darüber hinaus beim Therapeuten eine gefestigte, integre Persönlichkeit, die bei Krisen nicht mit Gekränktheit, Kälte oder Rachsucht kontert, sondern eigene Reaktionen, Gegenübertragung genannt, reflektiert – wie im geschilderten Inzestfall. Da die Anforderungen an Therapeuten enorm hoch sind, ist adäquate Hilfe für Traumatisierte nicht leicht zu finden. Zudem genehmigen Kassen maximal 300 Stunden Therapie. „Für schwer Traumatisierte“, bedauert Reise-Mumme, „reicht das meist nirgends hin.“

Eine psychoanalytische Konferenz im Zeichen von Vulkanausbruch und Flugverbot, das erschien wie Realität gewordene Metapher. Ihren Beitrag konnten etwa die Argentinier Luisa Busch de Ahumada und Jorge Ahumada nicht persönlich vorstellen, sie kamen nur bis Madrid. Atemberaubend ist der Fallbericht des Therapeuten-Duos aber auch als Lektüre. Ihr Patient, der knapp vierjährige Juan, hatte extreme Vernachlässigung erfahren. Alles hatte ihm der Babysitter Fernseher ersetzen müssen, Eltern, Familie, Spielgefährten. Juan bot das extreme Beispiel eines „von Medien aufgezogenen Kindes“.

Gänzlich ohne reales Gegenüber entwarf der Junge seine Sprach- und Bilderwelt analog zum Geschehen auf dem Bildschirm, besonders anhand von Tier-Trickfilmserien. Als ihm einmal ein Spielzeugkrokodil hinfällt, direkt vor seine Füße, fragt die Therapeutin, warum er es nicht aufhebt. Verzweifelt bricht es aus Juan heraus: „Siehst du denn nicht, dass ich nicht aus dem Bildschirm raus kann?“ An der Seite der Spieltherapeutin tastet er sich in einen Kosmos der Empfindungen vor, in dem er zwischen sich und dem anderen unterscheiden lernt. Sein Selbst taucht auf. Der virtuelle Raum hatte den realen Raum um ihn herum verdrängt.

Bei aller Anstrengung, das war beim materialgesättigten Vortrag von Judith Mitrani aus Kalifornien zu erleben, kann es auch ein Privileg sein, Patienten bei der Entwicklung ihrer Narrative zu begleiten, mehr zu erfahren über die Psyche des Menschen heute. Noch weniger als über die Streuung von Vulkanasche in der Atmosphäre wissen wir über die verheerenden Schrecken, die sich in der Seele eines traumatisierten Menschen ausbreiten. Hier hat die Gesellschaft die Chance, von Therapeuten und Analytikern zu lernen, jetzt vielleicht mehr als je zuvor.

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