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Kultur: Mit bloßen Händen in die Noten greifen Cecil Taylor steigt in Berlin von der Leinwand

Cecil Taylor tanzt. In seinem Haus in Brooklyn, zu Musik von Lena Horne.

Cecil Taylor tanzt. In seinem Haus in Brooklyn, zu Musik von Lena Horne. Er bereitet sich vor auszugehen, ins Blue Note, um Mal Waldron zu hören. Später: Cecil Taylor an seinem Flügel, vor ihm Blätter, auf denen er mit Bleistift seine Musik notiert hat. Keine Notenlinien, keine Noten. Es ist sein eigenes System, alphabetische und mathematische Zeichen, Kreise, in denen sich weitere kleine Kreise befinden. Die Hände bewegen sich über die Tasten, greifen, clusterartig, ganze Akkordbündel, monkisch. Dann wieder sieht man den hochkomplizierten, 76-jährigen Jazzpianisten auf der Bühne, zwischen Studenten. Er habe ihnen die tiefste und die höchste Note angegeben, erzählt er, unablässig rauchend. Sie hätten ihn gefragt, warum geben Sie uns nicht alle Noten?

„All The Notes“, so heißt das einfühlsame, sich diskret annähernde Cecil-Taylor-Porträt des amerikanischen Filmemachers Christopher Felver, das zum Abschluss des diesjährigen, musikalisch dichten, den aktuellen Stand der freien improvisierenden Musik abbildenden Total Music Meetings gezeigt wurde. Eine einzigartige Gelegenheit, denn noch gibt es keinen Verleih. Zehn Jahre hat Felver gebraucht, um sich vorsichtig an die Person des Pianisten heranzutasten. Aufnahmen von Konzerten, Taylor in tief versunkener Pose, einen Blues spielend. Felver hört den Erzählungen des Unzugänglichen zu über die Erdrotation, die ihren eigenen, unsichtbaren Klang hervorbringt.

Im Anschluss an die Vorführung, die sich um eine Stunde verzögerte, erschien Cecil Taylor persönlich, als wäre er aus dem Film direkt auf die Bühne gestiegen. Am Flügel sitzend, mit New-York- T-Shirt und seinem charakteristischen Doo-rag, einem schwarzen Nylonnetz auf dem Kopf, so wie es die Rap-Kids in den Straßen von Brooklyn tragen. Er spielt, nur begleitet von dem englischen Experimentalschlagzeuger Tony Oxley. Seine Finger bewegen sich schnell, tanzend. Rhythmisch, poetisch, Melodien aufwerfend. Dann springt er auf, murmelt eins seiner kryptischen Gedichte ins Mikrofon, die Stimme tänzerisch bewegend, wie vorher die Tasten.

Er ist ein Phänomen. Träger des McArthur-Geniepreises und eines Guggenheim-Kompositions-Stipendiums, der täglich seine imaginären Konzerte spielt, über Stunden, ganz für sich allein. Seine Auftritte sind selten. In der Carnegie Hall, in Universitäten. Und jetzt in Berlin. Unnahbar, verrätselt, den Jazz konsequent erweiternd, über sich hinaushebend. Der coole Hipster, die Ikone der Avantgarde. Noch immer.

Maxi Sickert

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