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Kultur: Mit Säure ätzte der Künstler seine Zivilisationskritik in die Radierplatten

Am Anfang dieser Ausstellung denkt man an Goya, am Ende an Andy Warhol. Mit fantastisch düsteren Radierungen von 1905 beginnt der Rundgang unter den 160 Graphiken von Emil Nolde, die das Brücke-Museum aus der Sammlung der Noldestiftung Seebüll ausgewählt hat.

Am Anfang dieser Ausstellung denkt man an Goya, am Ende an Andy Warhol. Mit fantastisch düsteren Radierungen von 1905 beginnt der Rundgang unter den 160 Graphiken von Emil Nolde, die das Brücke-Museum aus der Sammlung der Noldestiftung Seebüll ausgewählt hat. Dann steht man vor Lithographien von 1913, die wie Warhols Siebdruckserien mit den Kontrasten farblicher Stimmungen spielen. Dazwischen erlebt man einen Reichtum an Experimenten, der Materialien und Techniken des Drucks eine große Mitsprache einräumt.

Noldes Radierungen sind ätzend. Mit Aggressivität frisst sich die Säure in den glatten Spiegel der Radierplatten. Wie weggekratzte Flecken wirken die Schemen zwei tanzender Figuren, die sich im Blatt "Lebensfreude" (1905) auf ein paar ältlich grinsende Männerköpfe zubewegen. Nach und nach können die Augen im verwitternden Grau des nächsten Blattes drei "Bummler" (1905) auszumachen, deren vages Flackern sicher bald von der umgebenden Dunkelheit geschluckt wird. Das Gesicht eines "Straßenmädchens" (1909) scheint aus verkrustetem Dreck gebacken, die Szene eines "Maskenballs" (1911) droht sich aufzulösen wie eine schlecht fixierte Daguerreotypie. Überall Vergänglichkeit, Verfall.

So nutzte Nolde, dem der Zugang zur Kunst - wegen seiner bäuerlichen Herkunft und weil die akademische Welt den Künstler zunächst ablehnte - beschwerlich gemacht worden war, in den ersten Jahren künstlerischer Unabhängigkeit die Radiertechnik lustvoll für einen bösen Blick auf die Gesellschaft. Anders als später den Dadaisten lag ihm daran, seine zivilisationskritische Erregung nicht analytisch zu begründen sondern als intuitiven Schaffensprozess zu verklären. Seine Freunde und frühen Sammler reden in zeitgenössischen Texten, die der Katalog wieder zugänglich macht, vom "Rausch des Schaffens" und der "Absichtslosigkeit des Künstlers", der sich zum "dienenden Werkzeug des dämonischen Formwillens der Natur" macht (Max Sauerlandt, 1921). Leider folgen die neueren Texte des Kataloges diesem Schema der Selbstauslegung ohne den Versuch einer kritischen Kommentierung.

Dabei bietet die Ausstellung genügend Material, um die Suche nach dem Ursprünglichen, die Nolde ebenso wie die anderen Expressionisten aus dem Brücke-Umfeld bewegt hat, bis zum Punkt der Mystifizierung des Primitiven und der Erfindung von "Rassencharakteren" zu verfolgen. Die Holzschnitte, die zwischen 1910 und 1913 vom "Schwarzen Jungen", vom "Knecht" und den "Ägypterinnen" entstanden, belegen dabei zunächst nur die Suche nach Ausdruckskraft. Wie dieser Impuls der Moderne von der Ideologie der Nationalsozialisten später für die Verklärung eines ahistorischen Menschenbildes genutzt wurde, hätte im Kontext der Ausstellung gut zum Thema werden können, zumal Noldes Biografie von einer ambivalenten Haltung geprägt ist. Erst die Diffamierung als entarteter Künstler dämpfte seinen Nationalismus. Allein das Brücke Museum hält sich lieber an Stilkritik fest, anstatt dem Publikum das vielfältige Erbe der Moderne zur Diskussion zu stellen.

Das ist umso mehr zu bedauern, als sich oft erstaunliche Parallelen zwischen den Klassikern und der zeitgenössischen Kunst zeigen. Von Noldes Umgang mit ätzenden Säuren oder den Eigenschaften des Holzes in seinen Holzschnitten würde man gerne eine Linie ziehen zu prozessorientierter Kunst heute, die Spuren chemischer und organischer Entwicklungen einbezieht. Ebenso reizvoll wäre ein Vergleich der experimentellen Vielzahl von Varianten mit dem späteren Konzept von seriellen Arbeiten. Nebeneinander gestellt wirken zum Beispiel die beiden Fassungen der Radierung "Ein Herr und zwei Damen" (1911) wie die Tag- und die Nachtseite der gleichen Szene. Was in der linearen Fassung wie die bewußt flüchtige Skizze einer flatterhaften Begegnung scheint, in der noch alles möglich ist, wird in der zweiten Fassung gespenstisch wie das Negativ einer Fotografie. Plötzlich glaubt man dem Tod ins Angesicht zu schauen in den dunklen Flecken der Figuren. Leider erfährt man nicht, ob das Zusammensehen der Varianten von Nolde jemals vorgesehen war.

Auch in den Lithographien des "Jungen Paares" (1913) an der schönsten Wand der Ausstellung sorgen die Wechsel in den farblichen Stimmungen für ein Durchleben unterschiedlicher Spannungszustände. Die Bilder werden zum Kino. Schon dafür lohnt sich der erneute Blick auf Nolde.Brücke-Museum, Bussardsteig 9, 14195 Berlin, täglich außer Dienstag 11 - 17 Uhr, bis 30. Januar 2000. Der Katalog "Emil Nolde. Druckgraphik" im Verlag Hirmer, München erschienen, kostet 46 DM an der Museumskasse.

Katrin Bettina Müller

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