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Kultur: Mit Zauberzungen

„Harry Potter“, „Tintenblut“ und „Narnia“: Alle Welt liest Kinderbücher. Was ist das Geheimnis?

Aus dem Alltag eines Bestseller-Autors: „In jeder besseren Stadt ist eine Straße nach mir benannt. Es gibt Buchhandlungen, die ausschließlich meine Werke und die Sekundärliteratur dazu führen. Meine Anhänger haben eingetragene Vereine gegründet, in denen sich die Mitglieder mit Namen von Gestalten aus meinen Büchern ansprechen. Ich kann keine belebte Straße mehr entlanggehen, ohne einen Volksauflauf zu verursachen. Keinen Buchladen betreten, ohne bei den Buchhändlerinnen Ohnmachtsanfälle auszulösen. Kein Buch schreiben, das nicht umgehend zum Klassiker erklärt wird.“

Diesen Höhenflug, den Walter Moers seinem Alter Ego Hildegunst von Mythenmetz als Dankesrede zur Verleihung des Fantastikpreises der Stadt Wetzlar in den Mund legt, erleben derzeit einige Autoren tatsächlich. Joanne K. Rowling, die Schöpferin von Harry Potter, wird im Schloss von Edinburgh wie eine Königin gefeiert. Cornelia Funke, Autorin von „Tintenherz“ und „Tintenblut“, bei Lesungen von Hamburg bis Wien umschwärmt. Die Zahlen sprechen für sich: Seit dem Verkaufsstart am vergangenen Sonnabend ist „Harry Potter und der Halbblutprinz“, der sechste Band von Rowlings Sieben-Teile-Werk, in Deutschland eine Million Mal verkauft worden. Weltweit kommen die sechs bislang erschienenen Potter-Bände auf 300 Millionen verkaufte Exemplare. Und bei „Tintenblut“, dem zweiten Teil von Funkes Trilogie über die zauberzüngige Meggie und ihre Welt, sieht die Sache nicht viel anders aus: Auf Anhieb landete das Buch, das vor zwei Wochen erschienen ist, auf Platz 1 der „Focus“-Bestsellerliste. „Tintenherz“, 2003 erschienen, verkaufte sich in Deutschland 420000-mal und wird derzeit in Hollywood verfilmt.

Ein seltsames Fieber hat die Welt erfasst. Nicht nur in Deutschland, sondern überall liest man: Joanne Rowling. Cornelia Funke. Philip Pullman. Lemony Snicket. Mehrhunderseitige Wälzer, zumeist auch noch in mehrteiligen Zyklen angelegt. Und: Es sind Kinderbücher. Bücher, die die sonst lese- und fremdsprachenfaulen Jugendlichen am Tag des Erscheinens auf Englisch verschlingen. Bücher, die auch Erwachsene ungeniert in der Öffentlichkeit lesen. Die ersten Potter-Bände kamen noch in verschiedenen Ausgaben heraus, eine bunt eingebunden für Kinder, eine seriös dunkel gehalten für Erwachsene. Heute ist selbst der märchenhaft bunte Einband von „Tintenblut“ kein Hindernis mehr, sondern ein Erkennungszeichen.

Was ist passiert? Ist die Welt der kollektiven Infantilisierung anheim gefallen, wenn selbst seriöse Professoren Hotlines zum Harry-Potter-Erscheinen einrichten und Literaturkritiker wie Michael Maar, sonst auf Thomas Mann, Nabokov oder Proust spezialisiert, sich ernsthaft auf die Potter-Welt einlassen? Der Erfolg von Harry Potter, von – nervendem – Marketing-Rummel begleitet und schnell von Hollywood aufgegriffen, widerspricht allen Vorhersagen, die von Leserschwund und sterbendem Buchmarkt ausgehen. Und ist doch so ungewöhnlich nicht.

Zunächst einmal. Kinderbücher sind das schon lange nicht mehr. Oder doch nur so weit, wie auch J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“, Michael Endes „Unendliche Geschichte“ oder C.S.Lewis „Narnia“-Reihe (ab Dezember auch im Kino) Kinderbücher waren. Fantasy-Bücher sind es, die eine Welt jenseits der realen schaffen, ein Universum, dessen Schöpfung der Leser schrittweise verfolgen kann. Waren die Romane eines Proust, eines Dostojewski nicht auch so ein komplexes, figurenreiches System, in das man sich einarbeiten muss? Heile Welten jedenfalls sind es nicht, weder das Zauber-Universum von Harry Potter noch Cornelia Funkes Tintenwelt. Sie sind bedroht von bösen Kräften wie dem dämonischen Lord Voldemort oder dem grausamen Natternkopf. Tod gibt es dort, Krankheit, Leid und Krieg.

Und: Die Fantasiewelten sind durchlässig zur Wirklichkeit, das Tor öffnet sich in beide Richtungen. Der Schrank, durch den die Geschwister Peter, Susan, Edmund und Lucy ins Königreich Narnia gelangen, der Hogwarts-Express, der von Gleis 9 3/4 in London King’s Cross abfährt, die Bücher, die bei Funke ein Tor zur anderen Welt werden: Das alles sind nur Hilfsmittel. Was man in der Gegenwelt findet, ist nur ein Spiegelbild der eigenen. Bei Rowling ist es die Zauberschule Hogwarts, die das englische Internatssystem mit seinen Hierarchien, Hauseinteilungen, Stundenplänen und Sportereignissen in der Verfremdung sehr komisch abbildet.

Bei Cornelia Funke, die als die deutsche Joanne Rowling gehandelt wird, liegt die Sache komplizierter. In „Tintenherz“, dem ersten Band ihrer Trilogie, ist es ein Buch gleichen Namens, das zum Schlüssel in eine andere Welt wird. Mo, ein gewöhnlicher Buchbinder, besitzt die außergewöhnliche Fähigkeit, mittels Vorlesen Figuren aus Büchern heraus oder in diese hinein zu zaubern. In „Tintenblut“, dem zweiten Teil, geht Funke noch etwas weiter. Es tritt auf: Fenoglio, der Autor von „Tintenherz“, der sich von Mo in sein eigenes Werk hat hineinlesen lassen. Und dort feststellen muss, dass die eigene Fantasie nicht mehr den vorgegebenen Gesetzen gehorcht. Fenoglio, die halb komische, halb tragische Hauptfigur des Buchs, ist nicht frei von Autoreneitelkeit: Er freut sich an seinen Einfällen und kann doch der Versuchung nicht widerstehen, nachträglich in den Lauf der Geschichte einzugreifen und richtet ein heilloses Chaos an. Unschwer, in ihm ein ironisches Selbstporträt der Autorin Funke zu erkennen, die vom Erfolg ebenso überrannt wurde wie J. R. Rowling. Sind die beiden nicht auch Sklavinnen ihres Werks, indem sie stetig steigenden Leserdruck mit immer komplexeren Schöpfungen zu begegnen suchen?

Doch das verfremdete Wiedererkennen der eigenen Welt in einer komplex angelegten Fantasie allein kann den Erfolg noch nicht erklären. Auch nicht, dass beide Werke ein Loblied des Lesens singen, wie es Elke Heidenreich gefiele. Ist es bei Harry Potter dessen besten Freundin Hermione, die immer wieder in der Bibliothek, in der Literatur die Rettung aus vielerlei Konflikten findet, beruht Funkes Werk ganz auf einem selbstreferentiellen Literatursystem. Jedes Kapitel kündet von der Magie des Lesens, weil nur die „Zauberzunge“ Mo und seine Tochter Meggie mit ihren Stimmen Literatur zum Leben erwecken können – mit dem Schönheitsfehler, dass Funkes wie auch Rowlings Bücher sprachlich eher simpel gestrickt sind. Über die Macht der Sprache, die sie beschwören, gebieten sie nicht. Dafür stellt Funke den Kapiteln Zitate voran, die ihr literarisches Bezugssystem von Peter Pan bis Harry Potter, von Twain bis Tolkien aufdeckt.

Entscheidender jedoch ist das Grundthema, das alle Bücher, von „Herr der Ringe“ bis zu „Tintenblut“, verhandeln. Es geht um den uralten Kampf zwischen Gut und Böse, es geht um Weltherrschaft, Eroberung und Rettung, um Tod und Zerstörung, und den Sieg über eigene Ängste und Schwächen. Doch fernab einer Schwarz-Weiß-Sicht sind es gerade die uneindeutigen Charaktere, die zu heimlichen Hauptfiguren avancieren. Das war schon bei Tolkien so, wo die erbärmliche Kreatur Gollum zur entscheidenden Spielfigur wurde. Auch bei Rowling und Funke sind es Figuren wie der finstere Lehrer Snape oder der Feuertänzer Staubfinger, die im entscheidenden Moment ins Zentrum rücken. Ganz abgesehen davon, dass auch die Protagonisten nicht ohne Fehl sind: Harry mit seiner Sehnsucht nach den verstorbenen Eltern, seinem pubertären Trotz und einer geheimen Faszination für die andere Seite, Meggie, die sich aus ihrer realen Welt nur allzu sehr in die Märchenwelt sehnt. Irgendwo sind sie alle fehlbar. Es sind diese Zwischentöne, die sowohl Harry Potter als auch „Tintenblut“ zu mehr machen als einem Kinderbuch. Auch wenn sie trotz allem die Hoffnung zulassen, dass die Kämpfe ein Ende finde.

Christina Tilmann

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