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Was darf mit? Beim Umzug kommt der gesamte Haushalt auf den Prüfstand.

© Imago

Mobilität: Zug um Zug

Neues Jahr, neue Bleibe: Beim Kistenpacken in Schöneberg gehen die Gedanken zu den vielen Menschen, die derzeit unfreiwillig umziehen müssen.

Von Caroline Fetscher

Das Leben ist umgezogen in ein neues Jahr. 2016 ist da, laut geltender, globaler Zeitrechnung. Wie das vergangene wird es voraussichtlich ein Jahr der gepackten Taschen und Rucksäcke, Koffer und Bündel werden, ein Jahr des Davonlaufens Tausender und Abertausender aus Territorien, in die der zeithistorische Zufall sie geschleudert hat, Länder und Gebiete, in denen das Dasein nicht mehr erträglich ist, oder nicht einträglich sein kann. Oder beides.

Mobilität ist das Signum der Gegenwart, in der mehr Zeitgenossen auf der Flucht sind, als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals, das erzählen die älteren Verwandten über den Aufbruch aus dem Osten, packten sie rund tausend kleine Pakete – mit Büchern, Fotoalben, Bildern, mit Silber, Tassen, Tellern. Erlaubt waren zwei Kilogramm pro Sendung, und so reiste der portionierte Haushalt voraus, aus Sachsen an die Adresse einer entfernten Cousine, auf einen Hof in Unterschwaben. Dorthin folgte, einen Handkarren über die grüne Grenze ziehend, was von der Familie übrig war. In einer Kammer mit Kohleofen im Dachgeschoss fanden die Flüchtenden ersten Unterschlupf. Bald musste der Sohn, der Arbeit bekommen hatte, die anderen ernähren. „So fing das mit uns an, im Westen.“

Geschichten vom frühen „Rübermachen“ oder von der „Flucht aus Schlesien“ tauchen jetzt gehäuft wieder auf. Journalisten interviewen dazu ihre betagten Verwandten. Vergangene, eigene Traumata, herausgelöst aus dem Halbschatten der privaten Arsenale, dienen der Spiegelung an den akuten, aktuellen Traumatisierungen der anderen, der neu Dazukommenden: „Uns ging es doch auch mal so!“ Damit gelingt auch eine retroaktive Politisierung tabuisierter, „deutscher“ Fluchtnarrative. Auf diese beanspruchte lange die Fraktion der Vertriebenen ein Monopol, um ihre Passion zu perpetuieren und daraus fragwürdiges politisches Kapital zu schlagen.

Jetzt kann Mobilität kollektiv neu reflektiert werden – horizontale und vertikale Mobilität, also die räumlichen und sozialen Bewegungen von Gruppen und Individuen, ebenso wie die legale und illegalisierte, transnationale Mobilität des Zugs der Flüchtenden. Markiert ist ihr Zug durch transitorische Orte wie Bahnhöfe, Massenquartiere in Kasernen, Turnhallen und schäbige Hotels, improvisierte Bettenlager in beengten Wohnverhältnissen. Verlassen haben sie ihre Wohnungen, das im Wortsinn Ge-wohnte; gezwungen sind sie meist zur Eingewöhnung an Orte, die sie sich nicht ausgesucht haben, denen sie „zugewiesen“ werden.

Der Zug der Mobilität, der Zuzug der Flüchtlinge ist alles andere als ein Umzug. Wer in diesen Tagen in einem westeuropäischen Land umzieht, von einer Bleibe in die andere, kann sich des Privilegs geplanter, freiwilliger Mobilität mit selbst gewähltem, räumlichen Ziel bewusster werden, als jemals vorher. Krasser kann die Differenz kaum sein. Als einheimischer Zeitgenosse in Arbeit zieht jemand etwa in Berlin von A nach B, unbehelligt, mit lösbaren, praktischen Problemen – es interessiert keinen, im besten Sinn. Nicht ein Tag zwischen Bücherkartons, Grundrissstudium, Ikea-Fahrten und Farbeimern, an dem nicht klar war: Das hier ist die Art von Mobilität, auf die jeder ein Recht haben sollte.

Ein paar Straßen weiter leben hier in Berlin, wie überall im Land, Leute in einer „Erstaufnahmeeinrichtung“, im Gepäck nur das, was sie tragen konnten. Hier, in den Kartons in Schöneberg, lagern, zwei Generationen nach der Flucht mit dem Handkarren über die grüne Grenze, friedlich ein paar der Fotografien, die damals an Trümmern vorbeigeschafft, in das Gebiet der West-Alliierten gelangten. Hier geht es darum, in Ruhe zu entscheiden, was aus hunderten von Kilos im beruflichen und privaten Archiv behalten und was weggegeben wird. Fünfhundert der dreitausend Bücher sollen weg, aus Platzmangel, und im Grunde ist alles interessant. Absolut alles, auch die alten rororo-aktuell-Bücher, schon lange nicht mehr aktuell, aber gedruckte Zeitzeugen, genau wie die längst überholten Studien, Broschüren, Tagungsberichte, Stiftungsbroschüren zu den Zerfallskriegen Jugoslawiens und der Nachkriegsära der Nachfolgestaaten, alles. Alles ist Material, soziologisches, politologisches, zeithistorisches, sozialpsychologisches.

Schwere Postpakete gehen an eine Universität im Süden, zu einem exzellenten Südosteuropa-Forscher, einen, der es besser auswerten kann. Ein paar hundert Bücher wandern in eine kleine Buchhandlung, auch die 23 Bände „Nürnberger Prozesse“. Einige Pappkartons voll Bedrucktem enden in der Papiertonne. Das wochenlange Sortieren ist Entlastung und Abschied zugleich, aus der Einsicht, dass Lese- wie Lebenszeit endlich sind.

Unzählbar, auch das rückt ins Bewusstsein, ist die geronnene Arbeitszeit anderer, die sich in drei kleinen Zimmern eines Berliner Sozialbaus aus den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts versammelt. In den Büchern stecken unendliche Arbeitsjahre an Schreibtischen, in den Schallplatten die Probe- und Studiozeit von Orchestern und Bands, in jedem Quadratzentimeter Bleibe die Leistung von Architekten, Designern, Handwerkern.

Der neue Wohnraum entstand auf einem Trümmergrundstück, an der Stelle eines weggebombten Baus der Jahrhundertwende, in einer typischen Berliner Straße deren Anwohnerstruktur nur wenige Prozent Kontinuität aufweist. Von hier wurden Leute vertrieben oder deportiert, an diesem Ort des heute friedvollen Alltags im demokratischen Rechtsstaat wurden Leute verfolgt oder haben andere verfolgt, viele sind weggezogen, zugezogen, einige nach Flucht und Exil zurückgekehrt.

Heute richten sich auf die ohne Umzug Dazugekommenen, anders als auf einen normal und banal Umgezogenen, intensive Emotionen der bereits Ansässigen. Ihre Fantasie produziert Szenarien der Bedrohung, Beunruhigung und Abwehr, oder Impulse des Mitgefühls, der Rührung, Bilder von Opfern. Aufgeregt werden „die Fremden“ als Eindringlinge entworfen, als Objekte humanitärer Aktivität oder revolutionäre Subjekte, etwa wenn in Geflüchteten, die sich anhand von Smartphones über soziale Netzwerke orientieren, „digitale Vorreiter“ erkannt werden. Doch Dämonisieren wie Idealisieren sind gleichermaßen Modi der Entpersönlichung.

Flüchtlinge haben es auf keine einzige solcher Zuschreibungen abgesehen. Die allermeisten suchen vor allem Normalität, Wohnen, Gewohnheit. Sie wären, wenn überhaupt, dann lieber so umgezogen, eingezogen wie jeder Einheimische, der von Brandenburg nach Berlin zieht. In den neu Angekommenen ist noch akut lebendig, was sie verlassen haben, das Vertraute wie die Katastrophe. Ihre Transformation ist Schwerarbeit, bei der das Neue und Kommende erfassbarer wird, plastischer, verständlicher, so dass es allmählich mehr Raum einnimmt, als das Vergangene.

In der Zukunft, der die entgegenwachsen, die bleiben, werden einige von ihnen irgendwann Programmierer sein, Solaringenieure, Komponisten, Klempner, Pharmareferenten, Büro, – Reinigungs- und Pflegekräfte, Künstler, Bauarbeiter, Lehrerinnen. Und irgendwann, ein, zwei Generationen später, schreiben vielleicht Nachkommen, vollends angekommen in der Normalität, auf, was die Großeltern davon berichtet haben, wie sie damals über die grüne Grenze kamen, mit dem Smartphone in der Hand.

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