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Weg mit den Hosen. Europäische Mannequins demonstrieren auf den Pariser Champs-Elysées für das Kleid (1972).

© AFP

Mode und weibliche Identität: Wir klingen wie gackernde Hühner

Eine schnüffelt sich durch Mäntel im Restaurant, eine andere fühlt sich splitternackt, als sie erstmals ohne Kopftuch das Haus verlässt. Zwei neue Bücher liefern Stoff zum Nachdenken über Frauen und Mode.

Sie kann Anlass zur Freude und zur Sorge sein, sie schützt, zeigt, verhüllt, demonstriert, aber sie ist niemals neutral. Kleidung hat viele Funktionen und sendet viele Botschaften aus – auch solche, die gar nicht gemeint sind. Selbst wer morgens nur in Jeans und T-Shirt schlüpft, kann nicht verhindern, dass sie etwas mitteilen: Ich will nicht auffallen, ich habe Besseres zu tun, als mich mit Klamotten zu beschäftigen. Die Zeiten, da es ein Affront war, wie Joschka Fischer in Turnschuhen eine Ernennungsurkunde zum Umweltminister entgegenzunehmen, sind vorbei. Und doch gibt es nach wie vor Codes. Nur sind sie vielfältiger geworden, auch die Bezugssysteme wechseln rasch.

Wer in Frankfurt am Main angemessen gekleidet in ein Flugzeug steigt, kommt in Mumbai mit Sicherheit im falschen Aufzug an. Nicht einmal die Kleidersprache des globalen Business, Anzug für ihn, Kostüm für sie, gilt überall. Wer die Konferenzräume verlässt, muss sich anpassen: die Beine bedecken, den Kopf, das Gesicht, je nachdem. Ob man nun ja nicht auffallen oder unbedingt gesehen werden will, ohne Überlegung geht kaum einer aus dem Haus. Die meisten bilden Gewohnheiten aus oder suchen nach Methoden. Wie kann man die Sache vereinfachen oder vergnüglich gestalten, wenigstens so, dass man mit seinem Selbstbild übereinstimmt? Wobei auch das schiefgehen kann, zumindest für Frauen. Man denke nur an den Wirbel im vergangenen Sommer, als eine Direktorin im schwäbischen Horb ihren Schülerinnen die Hotpants verbot. Da ging es nicht nur um ein Stück Stoff. Es ging um Selbstbestimmung und soziale Regeln, um das Recht auf Kühlung bei Hitze, um Schönheit und Moral, um Provokation, Sexismus, Feminismus – und natürlich um Mode.

Ein höchst vergnügliches und kluges Buch über das moderne Kleiderchaos ist gerade im S. Fischer Verlag erschienen. „Women in Clothes“ heißt es im 2014 erschienenen amerikanischen Original, „Frauen und Kleider“ auf Deutsch. Leanne Shapton, Sheila Heti und Heidi Julavits, drei Schriftstellerinnen Anfang bis Mitte vierzig, haben sich zusammengetan, um gemeinsam mit einer großen Zahl weiterer Frauen über Kleidung nachzudenken (ursprünglich waren es 639, in der gekürzten deutschen Ausgabe sind es 561). Ihre Einleitung haben sie aus Mails, kurzen Betrachtungen und Skype-Dialogen zwischen New York und Toronto zusammengefügt. Schon das sagt einiges über das Projekt aus.

Man denkt sofort an Kindergarten, an kunterbuntes Durcheinander und Wildwuchs

Man muss heute nicht mehr am selben Ort sein, um gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Und wenn man das per Skype tut, stellt sich die Kleiderfrage plötzlich auch zu Haus. Da trägt etwa Sheila Heti, die Initiatorin des Projekts, eine Art schwarzes Unterkleid, in dem sie geschlafen hat, mit Leggins und Stola darüber. Sie ist ganz begeistert, dass es ein „Outfit“ ist und dass es ihr also überhaupt nicht peinlich wäre, wenn die Freundinnen vorbeikämen. „Wir klingen wie gackernde Hühner“, sagt Leanne Shapton. Das stimmt. Eben das macht den Charme des Buches aus, dessen Einleitung auch im Original den treffenden Titel „Kleidergarten“ trägt.

Man denkt sofort an Kindergarten, an kunterbuntes Durcheinander und Wildwuchs. Und tatsächlich entwickelt man im Lauf des Buches, das Geschichten, Gespräche, Umfragen, Fotos und Illustrationen enthält, eine robuste Sympathie für die Facetten weiblicher Selbstwahrnehmung und die akrobatischen Kunststücke, sie mit Rollen, Anforderungen und Wünschen in Einklang zu bringen.

Da erzählt etwa die amerikanische Künstlerin Michele Oka Doner von ihrem „einen“ Kleid, einem locker fallenden, hellen, skulpturalen Gewand mit weitem Kragen, das sie vor langer Zeit bei einem unbekannten Designer entdeckt hat. Geeignet zum Ausgehen, Daheimbleiben, Arbeiten, elegant, aber auch lässig, umschmeichelt es den Körper auf eine Weise, dass er darunter unbemerkt altern kann. Weil dieses Kleid so genau ihren Bedürfnissen entspricht, hat sie es in verschiedenen Farben und Materialien nachschneidern lassen. Immer wieder schlagen befreundete Designer eine Überarbeitung vor, sie aber bleibt beim bewährten Entwurf und alimentiert den verarmten Erfinder.

Eine Frau erzählt von der Magie des Ankleidezimmers ihrer Großmutter

Leanne Shapton erzählt, wie ihr auf einer Party das Kleid einer Frau so sehr gefiel, dass sie die Trägerin ansprach. Zu Hause angekommen, suchte sie es im Netz und bestellte es sofort, gegen ihre Gewohnheit und mit fürchterlich schlechtem Gewissen. Es trug sich wunderbar, kein Fleck konnte ihm etwas anhaben, es ließ sich einfach waschen, und sie fühlte sich immer gut angezogen. Aber das Gefühl der Peinlichkeit ging nie ganz weg.

Eine Frau erzählt von der Magie des Ankleidezimmers ihrer Großmutter, eine andere schnüffelt sich durch Mäntel und Jacken der Garderobe eines New Yorker Restaurants und schließt aus den Gerüchen auf die Eigenschaften der Träger. Anrührend sind die Bilder junger Frauen, bevor sie Mütter wurden, und die Texte ihrer erwachsenen Töchter über sie. Die Schriftstellerin und Künstlerin Miranda July lässt sechs einander fremde Frauen die jeweiligen Lieblingsoutfits der anderen tragen. Ihr Unwohlsein erkennt man an Körperhaltung und Gesichtsausdruck. Schwarze Frauen erzählen vom ständigen Kampf mit ihren Haaren und was es bedeutet, sie regelmäßig zu glätten oder eines Tages bewusst damit aufzuhören. Eine Ägypterin erinnert sich, dass sie sich „splitternackt“ fühlte, als sie mit 13 zum ersten Mal ohne Kopftuch aus dem Haus ging. Arbeiterinnen, die in Asien unsere Kleidung herstellen – allein in Kambodscha gibt es mehr als 400 000 Textilarbeiter –, erzählen von den brutalen Arbeitsbedingungen. Darunter eine Frau, die den Einsturz einer Fabrik in Bangladesch überlebte.

Die in Amerika lebende indische Schriftstellerin Kiran Desai fühlt sich grundsätzlich falsch angezogen. Sie sehnt sich nach einer Art Uniform. Und sie erzählt von einer Tante, die ihr Leben lang nur Saris trug und nach 9/11 auf Rat der Familie zu Jeans wechseln sollte. Die aber fühlten sich so unbequem an, dass sie nicht einmal darin sitzen konnte.

Kulturelle Codes, eigene Körperwahrnehmung, Übung, Alter und Befindlichkeit: Viele Faktoren spielen beim Ankleiden zusammen. „Alle meine Kleider“ nennt die emeritierte Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer ihren Essay, in dem sie ebenso subjektiv wie analytisch von der „Arbeit am Auftritt“ erzählt. Was als lässiges Kleidungsstück par excellence gilt, die Jeans, ist in ihren Augen die moderne Entsprechung des Korsetts und signalisiert eine „neue Epoche der Einschnürung“ – eine Überlegung, die Kiran Desais Tante sicher einleuchten würde. Wenn Schlaffer erzählt, wie sie als junge Studienrätin mit Miniröcken und langem Haar die Direktoren schockierte, die Schüler betörte und die Schülerinnen zur Nachahmung anregte, dann merkt man, wie viel Zeit vergangen ist. Viel Haut, wenig Kleidung, was im Hotpants-Konflikt dieses Sommers wieder aufflammte, hat kaum noch politischen Sex-Appeal. Vielleicht waren die 1970er Jahre, die Ära der Hippies und der sexuellen Befreiung, für Frauen tatsächlich eine gute Zeit. Damals konnten sie „nackt und mächtig“ zugleich sein, wie die Modedesignerin Mona Kowalska in „Frauen und Kleider“ feststellt.

Zum Glück merkt Hannelore Schlaffer, dass es sich aus ihrem Mund ein wenig kurios anhört, wenn sie beklagt, die heutige Mode sei nur für junge Frauen gemacht, von „Damen-Mode“ könne keine Rede mehr sein. Als „Schauspiel der Verlegenheit“ beschreibt sie den Auftritt älterer Frauen in den Läden der Modeketten, wo die jungen Frauen sie geflissentlich übersehen. Wie der ausbleibende Blick der Jugend sogar noch den Status als „Dame“ zerstört, ist ein funkelndes Stück analytischer Prosa, in der die Autorin dem eigenen Alter mutig ins Antlitz blickt: ein Zeichen guten Stils.

Leanne Shapton, Sheila Heti, Heidi Julavits: Frauen und Kleider. Was wir tragen, was wir sind. Aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz und Britt Somann. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2015. 446 S., 24,99 €.

Hannelore Schlaffer: Alle meine Kleider. Arbeit am Auftritt. Verlag zu Klampen, Springe 2015. 167 Seiten, 18 €.

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