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Kultur: Montezumas Rache

Wie die Sing-Akademie zu Berlin einer Vivaldi-Oper den Prozess macht

Als Opernkomponist ist Antonio Vivaldi derzeit groß in Mode. Nachdem jahrzehntelang nur seine „Vier Jahreszeiten“ gespielt wurden, entdeckt man jetzt das musikdramatische Werk des venezianischen Komponisten neu. Es war daher ein Glücksfall, dass ausgerechnet im Archiv der Sing-Akademie zu Berlin eine verloren geglaubte Partitur Vivaldis wieder auftauchte – noch dazu ein Stück, das in Mexiko spielt. Das dramma per musica trägt den Titel „Motezuma“ (sic!) und erzählt die Geschichte von den brutalen Eroberungszügen des Hernan Cortez. Ein purer Zufall, dass eine Abschrift der Partitur dem Musikwissenschaftler Stefan Voss bei Recherchen in der Berliner Staatsbibliothek in die Hände fiel. Die Sammlung des 1791 gegründeten Chores, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in die Sowjetunion verbracht wurde und erst 2001 aus der Ukraine nach Berlin zurückkehrte, ist berühmt für das „Alt- Bach’sche Archiv“, für Werke von Carl Philipp Emanuel Bach und Telemann, Graun, Hasse und Benda. Doch Voss stieß auf ein Fragment, das er dank eines erhaltenen Librettos als Vivaldis verloren geglaubten „Motezuma“ identifizieren konnte. In der Aufregung der ersten Stunde hatte Voss dem Vivaldi-Experten Federico Sardelli von seiner Entdeckung erzählt, kurz darauf telefonierte dieser mit dem Direktor des Konzertsaals De Doelen in Rotterdam. Beide beschlossen, den „Motezuma“ konzertant in einer von Voss edierten und von Sardelli komplettierten Fassung herauszubringen.

Nachdem die Sing-Akademie zunächst auf Bitten um eine Editionsgenehmigung nicht reagiert hatte, schaltete sich der Vorsitzende des Chores, Rechtsanwalt Georg Graf zu Castell-Castell, nun ein, erlaubte gegen eine Gebühr von 10000 Euro zwar die Aufführung im Juni, verbot den Holländern allerdings jedwede Ton- oder Videoaufzeichnung. Denn die Sing-Akademie hat Großes mit dem Vivaldi-Werk vor. Die Berliner stehen mit einem international bedeutenden Opernhaus in Verhandlung über die szenische Erstaufführung seit 1733, die dann selbstverständlich von einem potenten Plattenlabel mitgeschnitten werden soll. Darum geriet Graf Castell auch gehörig in Wut, als er erfuhr, dass Maestro Sardelli bereits auf eigene Faust eine Bühnenproduktion des „Motezuma“ angeschoben hatte: Bereits am 16. Juli soll sich im italienischen Toscana-Städtchen Barga der Vorhang für eine Inszenierung von Uwe Schmitz-Gielsdorf heben, als Koproduktion mit dem Düsseldorfer Kulturfestival „Altstadtherbst“.

Per Eilantrag will die Sing-Akademie heute in Düsseldorf eine einstweilige Verfügung gegen die geplanten Aufführungen durchsetzen. Keinen Geringeren als den Berliner Staranwalt und Urheberrechtsspezialisten Peter Raue leistet sich der Chor, um den Präzedenzfall auszufechten. Raue beruft sich auf Paragraf 71 des Urheberrechtsgesetzes, der besagt, dass jeder, der ein bisher nicht veröffentlichtes Werk findet, 25 Jahre lang alle Aufführungs- und Verwertungsrechte an dem Stück besitzt.

Während die einst so renommierte Sing-Akademie künstlerisch kaum noch von sich reden macht (die spektakuläre Aufführung einer „Faust“- Oper von Anton Radziwill aus dem Archivbestand ist gerade in den Oktober verschoben worden), scheint der Chorvorstand wild entschlossen, den zurückgekehrten Notenschatz zu versilbern. Notfalls mit Hilfe der Gerichte. Anders als staatliche Bibliotheken und gemeinnützige Stiftungen darf der Sing-Akademie-Verein Gewinne erwirtschaften. Für die Erschließung der Bestände könnte das fatale Folgen haben. Wissenschaftler fühlen sich von dieser Konfrontation-statt-Kooperation-Taktik abgeschreckt. Aus den Regalen zurück auf die Bühne können die Werke aber nur durch die Arbeit der Fachleute gelangen. Genau darauf hoffen die Barockmusikfans seit 2001. Eigentlich müsste das auch im Interesse der Sing-Akademie sein.

Manchmal reagiert die Sing-Akademie allerdings auch weniger streng. Als Mary Oleskiewicz sechs Flötenquartette des Hofkomponisten Friedrichs des Großen, Johann Joachim Quantz, im Archiv fand, beim amerikanischen Kleinverlag Steglein veröffentlichte und für das CD-Label Hungaroton einspielte, ließ man sie gewähren. Mit Flötenquartetten ist eben weniger Geld zu verdienen als mit Vivaldi-Opern.

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