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Kultur: „Moral ekelt mich an“

Wildes Kino: Der französische Regisseur Bruno Dumont und sein Film „Twentynine Palms“

Anfangs habe ich Philosophie unterrichtet an Schulen. Ein glücklicher Lehrer war ich nicht. Diese ewige Erweckungsarbeit: Ich konnte verstehen, dass die Schüler sich sträubten. Wörter sind meist das debilste Mittel, um etwas auszudrücken. Im Film erreiche ich dasselbe Ziel auf andere Weise.

Ja, Bruno Dumonts Schauspieler sind maulfaul. Beziehungsweise: Es ist nicht Faulheit, die sie hindert, sie sind nur nicht primär fürs Reden gemacht. Die Jugendlichen im Erstlingsfilm „La vie de Jésus“ (1996), der in Dumonts flandrischer Heimatstadt Bailleul spielt, artikulieren sich dadurch, dass sie mit ihren Kleinmotorrädern die brüllende Langeweile übertönen, bis – aus Eifersucht, aus Rassismus, aus Lebensleere – ein Mord geschieht. Der Dorfpolizist in „L’humanité“ (1999), der den bestialischen Sexualmord an einem Kind aufklären soll, treibt ziellos und wortkarg durch die Begegnungen mit Bekannten, die allesamt Verdächtige sein können – und, als ihm die Erhellung des Falls eher unterläuft, nimmt er aus Liebe die Bluttat auf sich. Und jüngst in „Flandres“ (2006), der Film hat noch keinen deutschen Verleih, zieht ein junger Bauer in den Krieg, während sein Mädchen sich wahllos den verbliebenen Männern der Gemeinde an den Hals wirft. Die Rückkehr ist furchtbar, aber wieder: stumm. Dabei sind diese Menschen nicht dumpf, im Gegenteil. Sie sind das pure Fühlen, jenseits der Sprache.

Ich bin ein barbarischer Filmemacher, ich mache primitives, wildes Kino. Was läuft denn schon über das Denken? Der Mensch ist aus einem Körper gemacht, aus Sinneswahrnehmungen, alles folgt der Natur - das Wünschen, die Lust, die Gewalt, die Liebe. Moral hat da gar nichts verloren. Moral ekelt mich an. Und wenn das Publikum mich auspfeift, dann nehme ich das hin, wie damals den Tumult unter den Schülern.

Nur vier Filme hat Dumont in elf Jahren gedreht – „Twentynine Palms“ (2003) kommt etwas verspätet ins Kino –, und mit ihnen entzweit er sein Publikum wie sonst allenfalls Lars von Trier oder noch David Lynch. Dumonts Universum ist großartig, schrecklich, irritierend, unverwechselbar. Auf Festivals machen seine Filme wegen ihrer Gewalt- und Sexszenen bei den einen Skandal, andere folgen ihm fast glühend. Sie lösen einen Furor von Ergründungslust aus, gerade weil die Figuren schweigen, gerade weil der Regisseur nicht erklärt. Zweimal hat Dumont in Cannes, für „L’humanité“ und „Flandres“, den Großen Preis der Jury gewonnen, schon „La vie de Jésus“ wurde stark beachtet, nur „Twentynine Palms“ ging 2003 in Venedig leer aus. Ein Nebenwerk; aber das hysterische Gelächter, mit dem sich dort viele Kritiker gegen seine ästhetischen Zumutungen wehrten, gegen seine sexuelle und physische Rohheit: Spricht es gegen den Film?

Meine Filme injizieren ein Serum, einen Impfstoff. Ich verabreiche bewusst die Krankheit, damit die natürliche Abwehr erwacht. Ich schockiere. Es ist dann am Publikum, Antikörper zu entwickeln.

Durch „Flandres“ tobt und mordet ein Soldatentrupp in einem nicht näher genannten Wüstenkrieg, und der überlebende Heimkehrer hat am Schlimmsten gewütet. Aber der nordfranzösische Feld-, Wald- und Wiesenfrieden nimmt ihn wieder auf, die Störungen werden bald von selber offenbar. In „La vie de Jésus“ und „L’humanité“ mündet die äußerst eigenwillige Aufklärung von Gewaltverbrechen in eine Art Seelennebel, der den Figuren immerhin ein Weitermachen ermöglicht. Und die Weite von „Twentynine Palms“ – Dumonts erste Filmreise nach Amerika, in die südkalifornische Joshua-Tree-Wüste – ist so entsetzlich unbesiedelt, dass Strafverfolgung schon aus Mangel an Zeugen entfällt. Das raue Dahintreiben eines Zufallspaares, das mit einem Geländefahrzeug der Marke Hummer unterwegs ist, endet jäh, als anderweitig brutaler Sex als pure Gewalt in ihr Leben eindringt. Hat sich das vorbereitet, haben sie es gar heraufbeschworen? Das wäre moralisch gefragt, also: untauglich.

Kant hat gesagt, der Mensch sei ein krummes Holz. Das Bild hilft mir beim Handwerk des Filmemachens. Meine Filme sind so: verwachsen, krumm. In der Verzerrung, in der Ungeschicktheit, im Ungenauen steckt unsere Wahrheit.

Also doch, Philosophie! Natürlich klingen Heidegger, Kierkegaard, Schopenhauer, die griechische Philosophie, auch der atheistische Mystizismus Nietzsches in Dumonts Filmen an. Und Bach. Die flämischen Maler. Tausend Einflüsse. Die Natur, die sich aus der Erdschwere speist und in ihr stets vergewissernde Klarheit findet, nicht diese jubilierend hohen italienischen Himmel. Das können die grüngrauen Auen an der belgischen Grenze sein, die vorderorientalischen Steppen oder die kalifornischen Mondoberflächen aus Staub und Stein, durch die das nackte Paar läuft, als sei das Antonionis „Zabriskie Point“. Oder eine ferne Erinnerung an Wenders’ Träume von der befreienden Unendlichkeit Amerikas. Nur: Weiter weg von jener erwärmenden Romantik könnten wir hier gar nicht sein.

Ich wollte einen Horrorfilm drehen. Ein anderes Projekt platze, für das ich zwei Wochen auf Motivsuche gewesen war, in Los Angeles und Twentynine Palms. Also schrieb ich schnell ein Drehbuch über diese Tage unterwegs mit einem Mädchen in der Wüste. „Twentynine Palms“ ist unverstellt autobiografisch, also gar kein eigentlich geistiges Werk, sondern folgt dem Zufall der Realität. Wobei auch hier die Wahrheit der Dinge erst im Bild entsteht, nicht aus den Dingen selbst. Ein Paar: Es fährt rum, es isst, es fickt, es guckt Fernsehen im Motel. Sehr primitiv, das alles. Nur den Schluss habe ich erfunden, um aus der Sache rauszukommen.

Es gibt Augenblicke der Zärtlichkeit in diesem Horrorfilm, es gibt das Lächeln Katias (Katia Golubeva) und Davids entspannte Coolness (David Wissak). Manchmal haben sie Spaß, nicht gerade beim Sex, der ist physisch und verzweifelt und laut, aber etwa, wenn sie sich abseits der Asphaltstraßen am Steuer abwechseln und Katia ihre ersten Fahrübungen macht. Und eine schöne Müdigkeit ist manchmal über den beiden am Abend auf dem Hotelbett, beim Fußnägellackieren oder beim Pizza-Wegschlecken aus der Wegwerfpappe. Und wenn ihnen mal langweilig wird und sie zu streiten anfangen, dann ist es eben so.

Ich arbeite am liebsten mit Laien. Schauspieler sind immer schon bereit, ich aber will den Widerstand des Darstellers. Mit David war das kein Problem, er ist kein Profi, er fügte sich. Katia musste ich ausdrücklich am Spielen hindern. Ich zwang sie, eine Figur zu entwickeln, die ganz von ihr ausgeht. Nach zwei Tagen hatte ich sie so weit, aber dafür machte sie mir das Leben zur Hölle.

Richtig, „Twentynine Palms“ ist ein überwiegend düsterer Film, gegen allen Ewigsonnenschein. Auch qualvoll oft, schon vor der Qual. Aber wenn es solche Filme nicht gäbe, wären so viele andere gleich gar nicht auszuhalten. Wie war das noch mit dem Serum, dem Impfstoff, der schönen Krankheit des Sehens?

Nein, ich bin kein verzweifelter Mensch. Ich habe nur einen Sinn für das Tragische.

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