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Auf den Spuren des Aristoteles. Moralphilosoph Michael Sandel.

© Thilo Rückeis

Moralphilosoph Michael Sandel: Das Märchen vom guten Markt

Ethik im Serienformat: Der Amerikaner Michael Sandel begeistert im Web Hunderttausende mit seinen Debatten zur kapitalistischen Gesellschaft. Die Zeitschriftenkolumne.

Von Gregor Dotzauer

Vielleicht ist „What Money Can’t Buy“ für Fans von Michael Sandel nicht genau das, was eine neue Staffel von „Mindhunter“ für Fans von David Fincher ist. Aber wenn es Ethik im Serienformat gibt, die das Zeug hat, so süchtig zu machen wie die subtilen Fälle zweier FBI-Profiler auf Netflix, dann hat Sandel, der in Harvard Politische Philosophie lehrt, die besten Chancen, ein Publikum innerhalb und außerhalb der akademischen Welt zu verführen.

Schon die zwölf Doppelfolgen von „Justice“ (justiceharvard.org), 2005 aus einer fakultätsübergreifenden Einführung in die Moralphilosophie entstanden, lebten von einem argumentativen Tempo, das intellektuelle Geistesgegenwart als Show zelebrierte, ohne dass dies auf Kosten der Substanz ging. In Begleitung des gleichnamigen Buches und der Quellentexte gibt es keinen besseren Weg, sich davon zu überzeugen, was philosophische Debatten zur Erhellung der Gegenwart beitragen. Wo „Gerechtigkeit“ aber ein theoretischer Grundlagenkurs anhand aktueller Beispiele ist, geht „Was man für Geld nicht kaufen kann“ (whatmoneycantbuy.org) – auf Deutsch erscheinen die zugehörigen Bücher bei Ullstein – den umgekehrten Weg: Ausgehend von mehr oder wenigen skandalösen Beispielen aus dem amerikanischen Alltag versucht Sandel deren Fragwürdigkeit zu begründen.

Schwere Jungs, Flüchtlingsquoten und Lebensversicherungen auf Mitarbeiter

In sechs vom Institute for New Economic Thinking produzierten und seit Ende Mai vollständig vorliegenden Folgen beschäftigt er sich mit dem kalifornischen Santa Ana, das Gefängnisinsassen, die sich keines Kapitalverbrechens schuldig gemacht haben, anbietet, für einen Zuschlag von 82 Dollar eine Zelle jenseits der ganz schweren Jungs und Mädchen beziehen zu können. Er denkt darüber nach, ob es legitim ist, wenn sich einzelne Staaten von Flüchtlingsquoten freikaufen, selbst wenn es die internationale Situation entspannt. Er untersucht, mit welchem Recht Arbeitgeber wie Walmart Lebensversicherungen auf ihre Mitarbeiter abschließen, deren Erlös sie im Todesfall aber den Angehörigen verweigern. Sind das nicht Wetten auf den Tod? Oder er zeigt, dass nicht einmal Schulen vor den Seuchen der Werbung und des Sponsorings sicher sind.

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Die rasant geschnittenen Gespräche mit Wirtschaftswissenschaftlern wie Joseph Stiglitz, Dambisa Moyo oder Minouche Shafik sowie einer ausgewählt hellwachen Studierendenrunde drehen sich stets um die Kommerzialisierung des Sozialen. Sandel ist dabei kein Prinzipienreiter. In der Mehrheit der Fälle gelangt er allerdings zu dem Schluss, dass Märkte gesellschaftliche Probleme allenfalls kosmetisch lösen. Sie tun dies in seinen Augen nicht nur, weil sie ökonomische Anreize als Mittel einsetzen, die dem moralischen Zweck von Grund auf fremd sind, sondern weil sie langfristig die ursprünglichen Motive beschädigen.

Der Effekt ist deshalb so stark, weil Sandel im selben Maß auf die moralische Intuition des Zuschauers setzt, wie er sie in Zweifel zieht. Gefühle, weiß er, sind noch lange keine Gründe, auch die durch Gewöhnung an Missstände eintretende Abwesenheit von Gefühlen, braucht aber die Kontrolle des Gedankens. Insofern zeigt er, dass es nicht um einfache Wahrheiten geht, sondern um ein philosophisches Besteck, das hilft, Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten.

Sandel pflegt die Nähe zum Kommunitarismus

Bei allem Talent zur Sophisterei ist er über den Einzelfall hinaus natürlich nicht positionslos. Sandel pflegt in Übereinstimmung mit Denkern wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor die Nähe zu einem Kommunitarismus, der das Bindungsvermögen der Gemeinschaft höher bewertet als die Zentrifugalkräfte eines grenzenlosen, ganz auf das Individuum zugeschnittenen Liberalismus. So oft, wie er vom gesellschaftlich „Guten“ spricht, das es einerseits vorauszusetzen und andererseits anzustreben gilt, zeigt er sich als moderner Tugendethiker auf den Spuren von Aristoteles.

Manches davon mag im Detail spezifisch amerikanisch sein, das meiste ist universell: Selbst in China begeistert er Hunderttausende. Die Umstände dieses nur auf den ersten Blick ungewöhnlichen Zusammentreffens dokumentiert sein jüngster Sammelband „Encountering China“ (Harvard University Press).

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