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Kultur: Moskau glüht

„Wächter der Nacht“ ist der größte Hit der russischen Kinogeschichte

Totales Kino. Das ist es, was Timur Bekmambetov im Kino sehen will. Viele andere Russen, so stellte sich heraus, wollen das auch. So wurde Bekmambetovs „Wächter der Nacht“, erster Akt einer in Romanform vorliegenden Fantasy-Horror-Trilogie, der größte Erfolg der russischen Kinogeschichte. Totales Kino, wie ein ehemaliger Werbefilmer es versteht, äußert sich in einem entfesselten Stil-, Schnitt- und Schwenkgewitter, dargeboten in einem Erzählrhythmus permanent sich ablösender Zeitdehnung und -raffung. Voraussetzungen und Wendepunkte des mehrfach gewundenen Geschehens werden einmal – und nur einmal! – erklärt. Gelegentlichen Kinogängern jenseits der 30 wird folglich besonders hohe Aufmerksamkeit abverlangt. Wohl auch ein Grund für den Kassenerfolg: „Wächter der Nacht“ lädt mit Nachdruck zum Mehrmalssehen ein.

Irgendwann im Mittelalter haben sich Gut und Böse vertraglich auf Koexistenz einigen können – auf eine große Koalition der Mächte sozusagen. Den einen gehört der Tag, den anderen die Nacht, und da passen die Wächter der einen Seite auf, dass die der anderen keinen Unfug treiben. Die Sache aber hat einen Haken: die Prophezeiung. Einer wird kommen, der Mächtiger ist als die anderen. Er kommt, ausgerechnet ins Moskau unserer Tage.

Im Osten nichts Neues, könnte man meinen: „Blade“, „Matrix“, „Herr der Ringe“ und ein wenig „Star Wars“ – Bekmambetov hat geläufige Vorlagen im Teilchenbeschleuniger erhitzt und auf russisches Filmwerk prallen lassen. Das Ergebnis der Schmelze allerdings ist ein völlig unamerikanischer Film. In seiner Erfindung komplexer Welten des Unwirklichen und seiner expressionistischen Optik ist „Wächter der Nacht“ einfallsreicher, dunkler und vielschichtiger, als es ein vergleichbarer Hollywood-Film je sein könnte. Das mit 4 Millionen Dollar Produktionskosten lächerlich preiswerte Machwerk ist ein rasendes urbanes Schauerstück, ein postsowjetischer „trip noir“. Peter Jacksons „Herr der Ringe“ wirkt dagegen beschaulich wie eine Teezeremonie im Grünen.

Tarkowski, Bondartschuk, Eisenstein und Trickfilm – alles steckt darin, sagt Bekmambetov, der mit diesem Film fast im Alleingang die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion darnieder liegende russische Filmindustrie ins Leben zurückholte. Fünfzehn Jahre lang rannte das russische Publikum in amerikanische B- und C-Filme, nun hat sich prompt ein neuer Filmpatriotismus entwickelt. Bekmambetov weckte den Hunger nach russischem Filmgut mit einem Fantasy-Blockbuster, dem es gelang, die zersplitterte russische Gesellschaft zusammenzubringen und gemeinsam zu beeindrucken. Sein Film mythologisiert die Alltagsgegenstände des schmutzigen Moskau: Die gelben Trucks etwa der städtischen Oberlichtinstandsetzung als geheimes Vehikel der Wächter des Lichts, oder jene billigen chinesischen Taschenlampen, die in Moskau fast jeder besitzt. Sie sind die schmucklose Standardwaffe zur Maßregelung der Bösen – wenn sie Menschen beißen, ohne dazu von der Lichtwacht lizenziert zu sein.

Bekmambetov sieht sein Werk in der Tradition Dostojewskis – als Fabel über das Problem des Gewissens. Erst am Ende zeigt sich, wie die Zahnrädchen des Bösen schon von Beginn an ineinander greifen: Sie treiben einen Keil zwischen Handlungen und ihren Folgen, bis die Akteure blind sind für deren Zusammenhang. Der völlig offene Cliffhanger schließlich stürzt den Helden Anton (Konstantin Khabernsky) in den Abgrund zwischen Schicksal und Schuld. Totales Kino und Gewissensfragen: Das soll den Russen erst mal einer nachmachen.

„Wächter der Nacht“ ist in 13 Berliner Kinos zu sehen; das englisch untertitelte Original läuft im Cinestar SonyCenter.

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