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Movimentos-Festival: Volkstanz ist Unterdrückung

Heavy Militär: Der israelische Choreograf Hofesh Shechter beim Movimentos-Festival in Wolfsburg.

Von Sandra Luzina

Der Krieger in der Samurai-Rüstung fackelt nicht lange. Er zieht sein Schwert, kniet nieder und rammt sich das Eisen in die Eingeweide. Der Harakiri zu den Klängen von Verdis „Requiem aeternam“ hat etwas von einem Comicstrip und wird rasch abgehakt. Gitarrenriffs ertönen, dann dreschen fünf Männer in Militäruniformen wild auf ihre Trommeln ein. Hofesh Shechters „Political Mother“ ist eine Kreuzung aus Tanzperformance und Rockkonzert – und eine heftige Attacke auf Augen und Ohren.

Der israelische Choreograf Hofesh Shechter wird in seiner Wahlheimat Großbritannien als Star gefeiert – und in einem Atemzug genannt mit Tanzgrößen wie Wayne McGregor, Russell Maliphant oder Akram Khan. Im letzten Jahr wurde Shechter mit dem Wolfsburger Movimentos-Tanzpreis als Bester Nachwuchskünstler ausgezeichnet – hier hat man den richtigen Riecher gehabt. Nun kehrt er in die Autostadt zurück mit dem neuen Stück „Political Mother“, seiner ersten abendfüllenden Choreografie, die Ende Mai in Brighton ihre Uraufführung erlebte.

Shechter hat wie alle jungen Israelis einen einjährigen Militärdienst leisten müssen. Später hat er einmal bekannt, dass dies zu einem regelrechten Trauma für ihn wurde. Über den Folkdance fand er zum zeitgenössischen Tanz, gehörte dann einige Jahre der berühmten Batsheva Dance Company an. Sein Lebensweg fließt jetzt auf beklemmende Weise in sein Stück ein.

In „Political Mother“ untersucht Shechter die verschiedenen Formen der Repression, er zeigt, wie sich Macht in die Körper einschreibt. Doch es geht nicht nur um die Unterdrückung von Individualität, sondern auch um den Wunsch nach Gefolgschaft. Wenn das zehnköpfige Ensemble erstmals im Gleichschritt tanzt, die Körper dicht aneinandergedrängt, dann schwankt es zwischen Drill und Unterwerfung. Die Tänzer formieren sich in einer Reihe oder im Kreis – was nach israelischer Folklore aussieht. Doch Shechter transformiert, verformt das Material auf rabiate Weise. Selbst wenn die Tänzer ihre Arme immer wieder zum Himmel heben, haben ihre Bewegungen etwas Geducktes, Eingeschnürtes. Die Disziplinierung der Körper wirkt so beängstigend wie belustigend. Am Ende verkündet eine Leuchtschrift: „Where there is repression …“. Nach einigen Sekunden folgt: „… there is folkdance.“

Vieles ist irritierend, befremdlich an Shechters Choreografie: „Political Mother“ veranschaulicht auf unheimliche Weise Aggression und Angst, weist aber auch eine blitzende Ironie auf. Die Szenen werden kurz angerissen und abgeschnitten, Shechter springt blitzschnell zwischen den Verweisebenen und den historischen Kontexten.

Über den Köpfen der Tänzer sind vier schrammelnde Gitarristen platziert, die einen massiven Sound produzieren. In der Mitte zuckt und zappelt der frenetische Sänger – nach einem Black-out hampelt plötzlich ein irrer Diktator vor dem Mikro. Ganz schön platt, der Vergleich. Doch wenn Shechter, der studierte Percussionist und Komponist, den Heavy Metall Sound mit dem militärischen Klang der Trommeln unterlegt, schwingt ein bedrohliches Echo mit, das von Gleichschritt und Gehorsam kündet. Eben noch schüttelte sich die Menge in Ekstase, dann mutiert sie wieder zum dressierten Tanzkorps. Und bisweilen erinnern die Tänzer sogar an Ghetto-Bewohner oder an Lagerinsassen, die in Drillichanzügen stecken. Der Anführer mit der Gorilla-Maske schreitet die Reihe der Wehrlosen ab, weidet sich an ihrer Ohnmacht. Dabei bleibt es. Bei Shechter sieht man keine Guerilla, keine Revolte – nur den großen Gorilla.

Der Israeli hat ein tiefes Misstrauen gegen Politik und alle Formen der kollektiven Bewegung. Er erblickt in allem die verführbare Masse. „Political Mother“ ist ein düsteres, pessimistisches Stück – und über weite Strecken fesselnd choreografiert. Den Tänzern gelingt die Gratwanderung zwischen grotesker Verzerrung und wilder Verzweiflung.

Zum Abschluss präsentiert das Festival noch ein besonderes Highlight. Das berühmte Nederlands Dans Theater, das in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen feiert, kommt mit seinen beiden Compagnien, dem NDT I und II, in die Autostadt. Zu sehen sind auch drei Arbeiten, die die Hauschoreografen Jirí Kylián, Paul Lightfoot, Sol León und Johan Inger aus Anlass des Jubiläums schufen.

„Political Mother“: wieder am 5. 6., 20 Uhr. Nederlands Dans Theater, Programm I: 8. und 9. 6., 20 Uhr; Programm II: 11. und 12. 6., 20 Uhr.

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