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Freie Schussbahn. Im Osten Libyens, wie hier in Ras Lanuf, haben die Rebellen Gaddafis Truppen vertrieben. Symbole seiner Herrschaft werden zerstört.

© dpa

Muammar al Gaddafi: Der ideale Tyrann

Libyens Staatschef Gaddafi tut alles, was man von einem Staatsverbrecher erwartet. Jetzt droht er den Libyern und dem Rest der Welt mit verbrannter Erde, mit einer Katastrophe. Aber wird der Westen deshalb militärisch eingreifen?

Im Mai 1789 hält Friedrich Schiller in Jena seine Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Darin formuliert er, wohl schon mit Blick auf Frankreich und die dräuende Revolution, den Satz: „Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt.“ Man möchte sagen: furchtbar und weit umfassend ... Hier aber spricht der Idealist, der es auch besser wusste. Geschichte ist ein Schlachtfeld. Ein paar Jahre zuvor stellte Schiller seinem explosiven Ein- und Aufstand als Dramatiker, den „Räubern“, die berühmten Worte in tyrannos! voran. Nieder mit den Tyrannen!

Das Problem des Tyrannenmordes hat Schiller immer wieder beschäftigt, in der Ballade von der „Bürgschaft“, im „Wilhelm Tell“. Politischer Mord wird in „Maria Stuart“ und im „Wallenstein“ verhandelt. Als eine einzige Abfolge von dynastischen Verbrechen, Abrechnungen und Morden um der Karriere willen stellen sich Shakespeares Königsdramen dar.

In der modernen Realgeschichte sieht die „moralische Welt“ anders aus: Tyrannen, Diktatoren, Massenmörder leben lang – und hoch! Stalin und Mao hielten die Macht über Jahrzehnte in ihren blutigen Händen. Sie ließen Millionen Menschen abschlachten, verhungern, entwurzeln. Zwölf Jahre dauerte Hitlers Schreckensherrschaft, er überlebte mehrere Attentate, und nicht alle Deutschen waren gegen ihn. Der Prozess konnte ihm nicht gemacht werden. Er schaffte sich selbst aus der Welt.

Mussolini und Ceausescu wurden nach kurzem Prozess erschossen, aber das sind Ausnahmen. Zumeist bleiben Diktatoren unangetastet. General Franco stirbt 1975 in einem Madrider Krankenhausbett, er wird ehrenvoll beigesetzt. Seinen portugiesischen Kollegen Salazar ereilt ein Schlaganfall. In Argentinien und Chile werden Militärdiktatoren steinalt, die Demokratien tun sich schwer damit, sie zur Verantwortung zu ziehen. Lateinamerika erweist sich als Schlaraffenkontinent für Staatsverbrecher und ihre Clans. Die alte Boxerweisheit („They never come back“) wird in ihr Gegenteil verkehrt.

Die Ausnahme hier heißt Trujillo, Diktator der Dominikanischen Republik. 1961 wird er von einem Killerkommando hingerichtet, nach dreißig Jahren an der Macht. An den diktatorischen Strukturen in dem Karibikstaat ändert sich wenig. Gegen Saddam Hussein mussten zwei Kriege geführt werden, seinetwegen haben die USA die Weltgemeinschaft belogen („Massenvernichtungswaffen“), wackelten die transatlantischen Beziehungen, und das Ende vom Tyrannensturz-Lied war und ist die Stärkung der islamistischen Tyrannei im Nachbarland Iran: Tausche Saddam gegen Ahmadinedschad! Tausche Mujahedin gegen Taliban, an anderem Ort.

Grundsätzlich läuft die Welt pro-tyrannisch, eine „ganze moralische Welt“ im Sinne Schillers ist Utopie. Vielmehr ergibt sich die gar nicht einmal so unbequeme Dichotomie von einer „moralischen Welt“ (der Westen, wir) und dem tendenziell bösen Rest (die arabische Welt, bis vor kurzem). China muss hier außen vor bleiben, es ist zu mächtig, verfügt über zu viel Wirtschaftskraft und Devisen, als dass wir uns mit der kapitalistischen Kommunistischen Partei in Peking ernsthaft anlegen könnten oder wollten.

Manchmal aber geschehen Dinge, die nicht vorgesehen sind. Wie in Tunesien und Ägypten. Ein Mubarak gibt auf, es könnte ihm auch noch der Prozess gemacht werden. In Libyen ist es schwieriger, von einer Demokratisierung zu sprechen, die Opposition kann sich nur mit Waffengewalt manifestieren und am Leben halten. Gaddafi schickt die ihm getreuen Truppenteile und Söldner in die Schlacht – und die Welt schaut zu. Sie leistet humanitäre Hilfe, versucht aber den Eindruck zu vermeiden, dass ein militärisches Eingreifen angezeigt und nicht mehr zu vermeiden ist.

Aber ist eine Militäraktion gegen den Operettenoberst, der sein Land in ein Inferno stürzt, nicht dringend geboten? Gaddafi erfüllt ideal jedes Kriterium, das einen Staatschef zum Diktator und Tyrannen macht. Er unterdrückt und beraubt sein eigenes Volk, hat über Jahrzehnte internationalen Terrorismus gefördert und finanziert, ein Verkehrsflugzeug zum Absturz gebracht, eine Diskothek in Berlin in die Luft jagen lassen, usw. Und jetzt droht er den Libyern und dem Rest der Welt mit verbrannter Erde, mit einer Katastrophe.

In tyrannos! Wer, wenn nicht Gaddafi, lädt derart provokant ausländische Truppen ein, ihn zu stürzen? Seine gespenstischen Auftritte flehen geradezu um Abschuss und Abschluss. Aber noch scheinen die Nato, die UN zu fürchten, dass sich in Libyen bei einem Befreiungsschlag irakische, afghanische Verhältnisse ergeben könnten. Das hieße, der Westen, die USA zumal, lernt aus der Geschichte. Das hieße aber auch, dass ein gestürzter, hingerichteter Diktator (Saddam Hussein) und ein keineswegs beseitigtes Terrorsystem (die Taliban) einem Gaddafi historisch zu Hilfe kommen. Eine bittere Lektion.

Es gibt noch weitere Gründe, weshalb Gaddafi ein internationaler Angriff erspart bleiben könnte. Es ist das Fehlen brutaler Fernsehbilder – und die Nähe Libyens zu Europa. Anders als in Irak und Afghanistan treffen Flüchtlingsströme aus Nordafrika sogleich und unmittelbar die EU. Das will immerhin bedacht, darauf müsste man vorbereitet sein. Mehr noch aber zählt eine andere Form der Nähe zu Libyen und seinem bizarren Diktator. Nicht allein Italien, auch andere europäische Länder unterhalten mit dem erdölreichen Land intensive Wirtschaftsbeziehungen. Nicht nur amerikanische Entertainer, sondern auch New Yorker Investmentbanker haben sich Gaddafi und seinem Gefolge angedient.

Nun lässt der Oberst UN-Inspekteure ins Land, was an den Irak und auch den Iran erinnert. Er will Zeit gewinnen, er taktiert. das Spiel ist offen. Es existiert für die libyschen Rebellen auch begründete Hoffnung, Gaddafi und sein Regime zu beseitigen. Es geht ums Öl. Da hat der Westen noch immer eingegriffen. Öl ist dicker als Menschenrecht. Und da erledigt man am Ende auch einmal einen guten alten Geschäftspartner.

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