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Kultur: Murks den Marthaler?

Eben noch konnte sich das Zürcher Schauspielhaus, nach nur einer Spielzeit unter der Direktion von Christoph Marthaler, über die Auszeichnung "Theater des Jahres" freuen - und schon steht es massiv in der Krise. 40 Prozent Rückgang bei den Abonnenten zum Start in die zweite Saison, und die Zuschauerzahlen auf der traditionsreichen Pfauenbühne haben sich gar halbiert.

Eben noch konnte sich das Zürcher Schauspielhaus, nach nur einer Spielzeit unter der Direktion von Christoph Marthaler, über die Auszeichnung "Theater des Jahres" freuen - und schon steht es massiv in der Krise. 40 Prozent Rückgang bei den Abonnenten zum Start in die zweite Saison, und die Zuschauerzahlen auf der traditionsreichen Pfauenbühne haben sich gar halbiert. Wenn es so weitergeht, rechnet Verwaltungsdirektor Marcel Müller vor, dann werden am Schluss der Saison 3,5 Millionen Franken fehlen. Gleichzeitig hat Müller, der in den letzten zehn Jahren eine durchschnittliche Auslastung von 70 Prozent vorweisen konnte, seine Kündigung zum Ende dieser Spielzeit bekannt gegeben.

Alarmstimmung herrscht jetzt nicht nur im Schauspielhaus-Verwaltungsrat, der Marthaler mit euphorischen Erwartungen nach Zürich gelockt hat, sondern auch im Stadtparlament. Und Neuwahlen stehen vor der Tür.

"Bald Vorhang zu beim Schauspielhaus?", orakeln die Grünen in ihrem Communiqué. Die rechtspopulistische SVP, Hauptangriffsziel von Schlingensiefs "Hamlet-Naziline"-Spektakel im Sommer, nutzt die Chance, sich am Hausherrn zu rächen, und beschimpft Marthaler als "Totengräber des Schauspielhauses". Da will auch der abtretende sozialdemokratische Stadtpräsident Josef Estermann nicht zurückstehen und markiert mit einem Ultimatum den starken Mann: Die Ära Marthalers, der einst an der Berliner Volksbühne zum Kultregisseur avancierte ("Murx den Europäer ...") werde nur dann fortgesetzt, wenn "das Ruder noch in dieser Saison herumgeworfen werden kann." Der geballte Unmut hat verschiedene Ursachen, und die Stadtväter wären gut beraten, sie hübsch zu sortieren und ihre eigenen Anteile mitzubedenken.

Es begann schon damit, dass sich die Bauverantwortlichen der neuen Schauspielhaus-Dependance im Industrieviertel böse verrechneten. Ursprünglich war ja der wunderschöne neue Schiffbau als reines Zentrum für Werkstätten und Proben geplant (Kostenpunkt: 23 Millionen Franken). Als Marthaler zum ersten Mal in der riesigen alten Werkhalle stand, rief er spontan: "Hier muss Theater gespielt werden!", und riss mit seiner Begeisterung alle mit. Man baute, wie gewünscht, und die Kosten stiegen zuerst auf 60, dann auf 80 Millionen Franken. Im Frühjahr wurde schliesslich klar, dass auch dies nicht reichte: Weitere 11 Millionen Franken Kostenüberschreitungen! Dafür hatte Zürich drei neue Bühnen im Schiffbau und das Schauspielhaus damit praktisch eine Verdoppelung seines Platzangebots auf 1600 Plätze. Nur: Woher das notwendige Publikum nehmen? Kommt hinzu, dass die Zürcher ein Drittel ihres Budgets an der Kasse einspielen müssen - mehr als jedes vergleichbare Theater im deutschsprachigen Raum. Auch wenn ein Teil der Abonnentenverärgerung durch die chaotische Planung und häufige Vorstellungsverschiebungen hausgemacht ist - es bleibt die Frage nach der künstlerischen Rechnung. Und da hat die Marthaler-Crew in kurzer Zeit zweifellos mehr erreicht, als man selbst optimistischerweise erwarten konnte - auf und neben den Bühnen. Man mischt sich nicht nur ein in den Diskurs, man löst ihn auch aus.

Das Programm ist vielgestaltig und breit gefächert, die Qualität fast durchwegs hoch. Von der Tanzperformance mit Meg Stuart über feinnerviges Kammerspiel in der kahlen Schiffbau-Box bis zum gediegenen Erzähltheater im edlen Plüsch der Pfauenbühne. Neben Jüngeren wie Falk Richter und Stefan Pucher inszenieren hier auch Altmeister Werner Düggelin oder die Regiestars Frank Castorf und Luc Bondy, der mit Martin Crimps "Auf dem Lande" seine erste Inszenierung überhaupt in seiner Heimatstadt herausbrachte.

Marthaler probt den Traditionsbruch. Klug, überraschend, verwirrend. Das ist, gerade in Zürich, gewöhnungsbedürftig. Ultimaten sind da kaum die richtige Antwort. Manchmal kommen die Zürcher einem vor wie ein Traditionsfussballklub, der unbedingt in der Champions League mitmischen will, wie wild Starspieler einkauft, ein neues Stadion aus dem Boden stampft und dann doch ziemlich erschrickt, was für ein schwindelerregender Angriffsfussball da plötzlich gespielt wird.

Alfred Schlienger

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