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Kultur: Murx, die deutsche Einheit

Abschied von der DDR ist okay. Aber die Ostalgie-Shows sind eine ausgewachsene Scheußlichkeit/Von Thomas Brussig

Straßenumfrage in Potsdam, anlässlich des 10. Jubiläums der Vereinigung der deutschdeutschen Telefonnetze am 1. Juni 1992. Sagt einer, Typ Handwerker, er hätte sein Telefon schon in der DDR bekommen – sechs Wochen, nachdem es beantragt war. Wie bitte??? Doch, sagt der Mann, und: „Es war nicht alles schlecht.“

Der 1. Juni 2002 war ein historischer Tag, ein Endpunkt der Ostalgie: Wenn nicht mal mehr das Telefonnetz (von 1000 Einwohnern hatten 27 Telefon) nicht schlecht gewesen sein soll, ja was denn dann? Nicht mal ein Satz wie Die Vollbeschäftigung war ja in Ordnung, aber das mit dem Telefonnetz musste wirklich nicht sein wird bleiben.

Ostalgie gibt’s nicht erst, seitdem das Fernsehen sie entdeckt hat. Vor mehr als zehn Jahren hat der Dresdner Kabarettist Uwe Steimle den Begriff geprägt, und mindestens ebenso lange ist diese Stimmung virulent. Um sich den Boom an Ostalgie-Shows zu erklären, muss man wissen, wie Fernsehleute denken. Die sehen, dass der Kinofilm „Good Bye, Lenin!“ ein Riesenerfolg war, und sie denken neidisch: Oh, sechs Millionen Zuschauer hätten wir auch gern. Und dann machen sie mit den Mitteln des Fernsehens das, was sie in „Good Bye, Lenin!“ zu sehen glaubten. Zuallererst übersehen sie, dass jener Film es unterließ, unseren Geschmack zu beleidigen. Und der Erfolg dieses Films – meine Theorie – rührt daher, dass er etwas nachholt, was 1990 nicht geleistet wurde: den Abschied von der DDR. Sie wird mit Anstand unter die Erde gebracht. ’Ne Handvoll Sand drauf und noch mal das Sandmännchenlied. Abspann.

Mein Brechreiz ist ein aktueller

Die DDR-Shows buddeln den Sarg wieder aus. Wenn Dagmar Frederic mit einer ihrer Darbietungen auf dem Bildschirm erscheint, dann hat das nichts mit Nostalgie zu tun: Mein Brechreiz ist ein aktueller. Zur Nostalgie gehört, dass es weg ist, vorbei, verschwunden, erledigt. Und eine Dagmar Frederic ist auch heute Ostfernsehen, selbst wenn sie faltiger und hüftspeckiger ist als damals.

Ich bin ungerecht? I wo: Wissen Sie, wer meine größten Fans sind?, testfragte sie einst ihre Interviewerin. Das sind die Frauen. Wegen mir gibt’s nie Streit oder Eifersuchtsszenen – bei mir geht der Rock immer übers Knie! Deshalb ist Dagmar Frederic Ostfernsehen: Nur dieses konnte eine Moderatorin hervorbringen, die mit ihrer Reizlosigkeit protzt. Wahr ist ihre Antwort trotzdem: Ich (männlich) zähle mich nicht zu ihren Fans, Streit gibt’s wegen ihr nie: Wir schalten einvernehmlich weg.

Außer letztens. Da brachte das ZDF die erste dieser Nostalgie-Shows, und weil sowieso wieder alle Zeitungen/Rundfunkstationen/Fernsehsender wegen Statements bei mir anrufen würden, wollte ich mich wappnen. Allerdings hab ich kaum was gesehen, weil ich ständig aus dem Wohnzimmer rennen musste. Und immer kehrte ich zurück im Glauben, das Schlimmste sei überstanden – nur, um bald wieder die Flucht zu ergreifen.

Diese Nostalgie-Shows sind nicht nur eine ausgewachsene Scheußlichkeit, sie sind auch ein Missverständnis. Aufklärung gefällig? Gerne. Nahezu jeder – meine Theorie – empfindet nostalgisch. Früher war’s bekanntlich schöner, und Opa fand sogar den Ersten Weltkrieg klasse. Auch der Mensch, der aus der DDR kommt, ist so konstruiert. Die Erinnerungen sind ein Organ der Seele, wie der Magen ein Organ der Verdauung ist: Sie verarbeiten das Erlebte so, dass wir einen „Lebenssinn“ oder eine „Lebenserzählung“ herstellen können. Erinnerungen interessieren sich nicht dafür, wie es „wirklich“ war. Sie täuschen, betrügen, schmeicheln, unterschlagen. Sie wollen uns heimlich beim Glücklichwerden helfen.

Die Ostalgie unterscheidet sich nur in einem wesentlichen Punkt von der üblichen Nostalgie: Das Objekt der Verklärung ist in seiner Deutung schwer umkämpft. Die DDR steht unter besonderem Druck; die Verklärung muss sich über ein herrschendes Geschichtsbild vom „Stasi-Terror“, „SED-Staat“, „totalitären Regime“ usw. hinwegsetzen. Dieses Geschichtsbild steht in einer toten Ecke des Erfahrungsraumes vieler Ostler. Die DDR ist in den Köpfen vieler Menschen etwas anderes als das, was ihnen von den Historikern – auch im Fernsehen – präsentiert wird.

Hier setzen die Nostalgie-Shows an: Sie wollen, wie es so schön heißt, die Leute da abholen, wo sie stehen. Natürlich sind sie auch Ausdruck eines schlechten West-Gewissens und einer vermurksten deutschen Einheit: Wenn kaum ein Ostler Chefredakteur oder Intendant ist, wird mit anderen Mitteln Proporz geschaffen. Dabei soll unbedingt vermieden werden, was doch jeder sieht: dass ARD und ZDF das Westfernsehen sind. ARD und ZDF wären viel lieber das, was sie heißen: deutscher Rundfunk, deutsches Fernsehen.

Leipzig hat den Zuschlag für die deutsche Olympiabewerbung bekommen – das war kein Gnadenakt der deutschen Gesellschaft, das war keine bloße Geste. Leipzig war allererste Wahl unter den deutschen Städten. Das beste an der Wahl Leipzigs war, dass es auch eine andere Stadt hätte werden können.

Liebe Fernsehmacher, ihr könnt euch diese Ostalgie-Shows schenken. Klar, ihr wollt was Patriotisches tun, wollt einen Beitrag zur inneren Einheit leisten. Aber wenn die Statistiken eurer Reporter auch DDRSportler berücksichtigen würden, wenn Sätze wie Der erfolgreichste deutsche Marathonläufer bei Olympia war natürlich Waldemar Czierpinski mit seinen Siegen 1976 und 1980 ganz selbstverständlich wären, dann hättet ihr mit wenig Aufwand – wenn auch einiger Überwindung – eine Menge für die innere Einheit und die ostdeutsche Seele getan. Eure Reporter dürfen sogar sagen, dass Czierpinski aus Halle kam. Dass er aus der DDR kam, klingt leider noch so, als ob er Lepra hätte, und zu sagen, er käme aus der ehemaligen DDR, ist ein noch schlimmerer Fauxpas: Wer von der ehemaligen DDR spricht, unterstellt ungesagt, dass es auch eine jetzige DDR gibt, und ist somit ein Spalter. Die DDR endete, wie wir alle wissen, 1990 und braucht deshalb ebenso wenig ehemalig genannt zu werden wie ein Schimmel weiß.

Aber es geschehen auch kleine Wunder: Vor ein paar Tagen war der 25. Jahrestag jenes Fluges „des ersten Deutschen im All“ – und das Westfernsehen brachte in den Nachrichten Beiträge darüber, mit Bildern von damals und heute. Ausgewogen und sachlich. Deshalb haben wir doch am liebsten Westen geguckt. Das nehmt mal mit in die Einheit.

Es war eben nicht alles schlecht.

Thomas Brussig, Jahrgang 1965, lebt in Berlin. Er ist Autor der „Sonnenallee“ und von „Helden wie wir“. Zuletzt erschien sein Theaterstück „Leben bis Männer“.

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