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Kultur: Murx die Europäerin

Anna Viebrock mixt Doderer und Mahler zum Endzeitspuk im Berliner Hebbel am Ufer

Der Terror kommt aus der Stille. Mucksmäuschenleise kommt er daher, auf Sammetpfoten möchte man sagen, wenn Frau Kapsreiter nicht diese ausgetretenen Gummipantoffeln trüge, mit denen sie durch die Wohnung tapst, vom Bett an der Kücheneckbank vorbei aufs Klo, nicht ohne sich auf dem Weg das Knie am Ölofen zu stoßen.

Frau Kapsreiter hört die Flöhe husten, vor allem nachts. Am Morgen schreibt sie mit hinter dickem Kassenbrillengestell verquollenen Augen die Albträume in ihr Nachtbuch, Träume von zähflüssigem Beton, der sich durch Klomuschel und Kanalgitter in die Oberwelt wälzt, von Feuersbrünsten und versteinten oder verschwundenen Menschen. Es gärt im Bauch von Wien, Frau Kapsreiter brabbelt unverständliches Zeug und schreibt komische Sätze. „Ohne Leben Tod“, der Titel dieses Theatermusikabends im Hebbel am Ufer, könnte von Frau Kapsreiter stammen.

Frau Kapsreiter stammt aus Heimito von Doderers „Dämonen“-Roman. Anna Viebrock hat sie in ihrer dritten Regie-Arbeit in eine Kittelschürze gesteckt und auf die Bühne gestellt. Typische ViebrockBühne: Bett, Schrank, Küchentisch, alles abwaschbar, Billigfurnier, veraltet, vergilbt. Der Porzellanschwan im Vitrinenschrank leuchtet im Dunkeln, der Gekreuzigte im Küchenuhren-Zifferblatt auch. Man kennt sie, diese Zeitlupen-Ästhetik, diese spröde, kauzige Hässlichkeit.

Aber das ist nicht alles: Unter dem Erdgeschoss klopft Krächzi, der Neffenbub aus dem Burgenland, Wiens Kanalrohre ab, bevor er (Albtraum!) verschwindet. Ein Obergeschoss hat die Marthaler-Ausstatterin auch noch hinzugefügt: eine kahle Kapelle mit Kirchenbänken und Lichttafel unter turmhoch offenem Schnürboden. Hier sitzen die Musiker der Sinfonietta Leipzig, ein gutes Dutzend vielleicht, spielen im On wie aus dem Off Gustav Mahlers wundersame Vierte Sinfonie, dazwischen sperrig Atonales ihres Leiters Johannes Harneit zu den Versen der „Sexcenta Monodistichia Sapientum“ von Daniel Czepko von Reigersfeld. Wenn Frau Kapsreiter Latein könnte, würde sie sich bestimmt ähnliche Werktitel ausdenken.

Die Musiker sitzen mit dem Rücken zum Publikum. Mahler von hinten! Ein wenig zittrig und zagend klingt das in Harneits Bearbeitung, bis auch die närrische Kindertotenmusik beinahe völlig verschwunden ist. Als ob einer permanent Psst sagen würde: Die Streicher drücken ihre Bögen kaum auf die Saiten, die Bläser markieren nur. Mahler ohne Zirkuslärm und Tanzbodenüberschwang, eine vom Wind aus der Spur verwehte, in hauchzarte Fetzen ausgefranste, leichenblasse Spukmusik. Gespensterpianissimo: Der Stoff, aus dem die Sinfonie gewebt ist, hat sich zerschlissen, und die Doderer- und Czepko-Sätze zerfallen, verwesen genauso.

Bis die Glocken klingeln: Nicht nur den Spuk, auch das Bimmeln hat Mahler ja schon mitkomponiert. Im Hebbel-Theater schnarrt es nun so kräftig, dass Frau Kapsreiter auf der Stelle hellwach ist. Kein Wunder, sehen die zahllosen Steckdosen, Verteilerkästen und die wie zum siebenarmigen Leuchter drapierten Klingeln über dicken Stromkabeln in der Kapelle schon verboten genug aus. Der Kurzschluss ist progammiert, zumal Frau Kapsreiters Bruder Mathias permanent an den Sicherungen herumschraubt und neue Klingeln anbringt. Rotes Licht flackert auf, Qualm dringt aus dem Sicherungskasterl, Stromausfall, Feurio, Katastrophenalarm! Folgt der nächste (akustisch kaum verständliche) enigmatische Dissonantenvers von Czepko – und die nächste lange, sehr lange Weile.

Politischer Hintergrund von Doderers „Dämonen“ ist die Brandstiftung am Wiener Justizgebäude von 1927: damals eine Reaktion auf den Freispruch mehrerer Mörder, die unter anderem den Tod eines Buben aus dem Burgenland verschuldet hatten. Eine Historie aus dem präfaschistischen Österreich. Man muss das nicht wissen, um in Viebrocks Dauerkrisenneurotikern Zeitgenossen zu entdecken: Menschen, die fürchten, dass ihnen die Welt gleich um die Ohren fliegt, die sich in der Kirche bekreuzigen, aber an nichts mehr glauben.

Man muss es auch nicht wissen, um von Julian Twarowskis „Wunderhorn“Knabengesang in Mahlers Finalsatz angerührt zu sein: Wie er da tapfer die backenden Englein und himmlischen Jungfrauen intoniert und zwischen den Strophen mir nichts, dir nichts umfällt, denn er ist ja längst tot. Jedesmal muss Vater Mathias (Johannes Harneit) ihn wieder aufrichten und an die Wand lehnen. Und man muss es erst recht nicht wissen, um sich an Bettina Stuckys Umstandskrämerin Frau Kapsreiter zu ergötzen, an diesem Menschenkasterl mit breiter Hüfte, Blinzelblick und Schlurfschritt: eine wuchtige Königin der Armseligkeit. Murx die Europäerin: Ihre morgenmuffelige Art, sich einen Kaffee zu kochen und eine kleine Trance-Ewigkeit dafür zu brauchen, ist kultverdächtig.

Es ist wie bei Marthaler: Alles so wundersam hier, bloß – um Himmels willen – wozu?

Hebbel am Ufer, HAU 1. Wieder am 13., 14., 16., 18., 19. Dezember um 19.30 Uhr

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