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Kultur: Muse Mythos

Eric Selbin erklärt, wie Revolutionen von historischen Vorbildern angetrieben werden

In der arabischen Welt erzittert die Erde, und in Europa ist von kommenden Aufständen die Rede. Das Prekariat verelendet vor sich hin, Wutbürger kühlen ihr Mütchen vor Wasserwerfern. Da kommt der texanische Politologe Eric Selbin gerade recht, um zu erklären, wie Revolutionen funktionieren.

Es reicht ja nicht, ökonomische Prozesse und soziale Bedingungen zu analysieren. Ungerechte Verteilung von Land, Gütern, Reichtum oder Macht gab es immer; Revolutionen dagegen sind die Ausnahme. „Die These lautet, dass der entscheidende Faktor zur Erklärung, wie und warum Revolutionen entstehen, die Geschichten von Revolution, Rebellion und Widerstand sind, die wir erzählen“, schreibt Selbin in der Einleitung von „Gerücht und Revolution“. Dieser „narrative“ Treibsatz werde meist übersehen.

Schon Karl Marx wusste allerdings, dass die Geschichte nicht nur aus Klassenkämpfen, sondern auch aus einer „Abfolge von Kostümfesten“ besteht. Gerade in revolutionären Epochen beschwören die Menschen „die Geister der Vergangenheit in ihren Dienst herauf, entnehmen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen“.

Es werden spezifische Mythen des Aufbruchs aktiviert. Besonders wichtig sind laut Selbin dabei unvollendete Revolutionen. Dazu gehörte die Französische Revolution, deren weltbewegende Verheißungen im Terror erstickt wurden und über die François Furet schrieb, sie habe einen Anfang, aber kein Ende gehabt – „ein Versprechen von solchem Ausmaß, dass es unendlich dehnbar wird“.

Es passt zu Selbins narrative turn, dass Revolutionen selbst eine narrative Struktur haben: mit Anfang, Steigerungen und Höhepunkten, mit Haupt- und Nebenfiguren. Wie jeder Popstar geht auch jeder politische Held in den Spuren eines anderen Helden. Bei einer Christusgestalt wie Che Guevara oder einem Freiheitskämpfer wie Garibaldi wird das besonders deutlich – sie haben Nachfolger auf allen Kontinenten gefunden. Mit gutem Grund: „Geschichten von individueller Tapferkeit sind meist inspirierender als abstrakte Ideale“, so Selbin.

Während sich konservative und rechte Revolutionäre seit je auf historische Mythen berufen (man denke an die NS-Inszenierung des Barbarossa-Mythos), ist vielen Linken der politische Mythos offiziell verdächtig: Man ist schließlich der Zukunft zugewandt, will loskommen von den historischen Wiederholungszwängen. Traditionen gelten eher als Hemmschuh. Klügere Revolutionäre wussten aber schon immer: Wer die Erinnerung kontrolliert, hat die Gegenwart im Griff.

Die Geschichten von der Möglichkeit des Widerstands dienen auch der Erzeugung politischer Romantik. Leidenschaft ist entscheidend. Dieses „romantische“ Element wird dann später selbst von den Desillusioniertesten gerne erinnert: Die Geschichten von den politischen Kämpfen müssen auf ewig erzählt werden, wie die Anekdoten der 68er beweisen.

Selbin zitiert einmal Octavio Paz: „Es war, als ob das Mexiko von 1968 eine Metapher der Pariser Kommune oder des Angriffs auf den Winterpalast war: Mexiko war Mexiko, und doch war es eine andere Zeit und ein anderer Ort.“ So erweist sich die Geschichte der Revolutionen als Spiegelkabinett und Echoraum. Nicaragua 1979 ist für Selbin eine „Neuerzählung“ von Kuba 1959, dem mächtigsten Revolutionsmythos der letzten 50 Jahre. Die friedlichen Revolutionen von 1989 haben den Lateinamerika-Spezialisten offenbar weniger beeindruckt, obwohl gerade sie die Macht des Weitererzählens, die zur revolutionären Kettenreaktion führte, belegen. Auch in Rumänien wagten die Menschen erst Ende 1989 den Aufstand, als die Geschichten erfolgreicher Umstürze aus Osteuropa zu ihnen drangen.

Ein Problem besteht darin, dass die Revolutionäre über ihre Psychodynamik keine offiziellen Verlautbarungen machen. Lieber reden sie von Armut und Ungerechtigkeit. Deshalb bleibt Selbin – nach etwas umständlichen methodologischen Erwägungen – im zweiten, gut lesbaren Teil seines Buches kaum anderes übrig, als die Geschichte der großen Revolutionen noch einmal zu erzählen. Er teilt sie ein in drei Typen: zivilisierend-demokratische, befreiende und soziale. Hinzu kommen die verlorenen Revolutionen. So stand die russische Oktoberrevolution in der Nachfolge der blutig niedergeschlagenen Pariser Kommune, die von der französischen Erinnerungskultur aus Wiederholungsangst lange verdrängt wurde.

Spannend erzählt Selbin von Haiti 1791, dem einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand der Geschichte – Heinrich von Kleist hat eine der besten wie brutalsten Novellen der deutschen Literatur darüber geschrieben. Man erfährt Einzelheiten über die opferreiche mexikanische Revolution; es war die erste stilbildende Großrevolution des 20. Jahrhunderts, die in der ganzen Welt aufmerksam verfolgt wurde. Die realen Schrecken, Zerstörungen, Morde, von denen Aufstände meist begleitet sind, spielen für Selbin allerdings eine untergeordnete Rolle. Revolution interessiert ihn als Verheißung und „Gerücht“: von der Möglichkeit der Schaffung einer besseren Welt.

Eric Selbin: Gerücht und Revolution. Von der Macht des Weitererzählens. Aus dem Englischen von Leandra Viola Rhoese. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010. 288 Seiten, 39,90 €.

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