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Grabbelfieber. Fachsimpelnde Sammler auf der Messe in Utrecht. Sie reisen zweimal im Jahr aus der ganzen Welt an.

© ARC Record Planet

Musik als Kult und Ware: Verrückt nach Vinyl

Sammlers Paradies: Bei Europas größter Schallplattenbörse in Utrecht jagen Popfans und Geldanleger nach Schätzen.

Jeder Plattensammler kennt dieses Gefühl: Man betritt eine Plattenbörse, hat ein paar Geldscheine im Portemonnaie, ist am Abend davor extra früh zu Bett gegangen, um konzentriert zur Tat schreiten zu können und ist nun voller Erwartungen. Man weiß nicht genau, auf welche Schätze man stoßen wird, man hofft einfach nur, ein paar Platten zu finden, die einen glücklich machen.

Die Plattenbörse im holländischen Utrecht in der Messehalle „Jaarbeurs“ zu besuchen, ist für Sammler so, als ob ein gläubiger Christ, der sonntags immer seine Gemeindekirche besucht, endlich mal in den Petersdom kommt und ihm der Papst persönlich zuwinkt. Einfach überwältigend! Auf normalen Plattenbörsen in Berlin kann man froh sein, wenn einen um die zwanzig Händler erwarten, auf der zwei Mal jährlich stattfindenden „Mega Record & CD Fair“, die am Wochenende wieder im eine halbe Zugstunde von Amsterdam entfernten Utrecht stattfand, kann man sich durch das Angebot von über 450 Händlern aus aller Welt wühlen. Sie ist größte Europas. Selbst aus den USA und Mexiko sind Händler eingeflogen und Sammler aus Moskau oder Tokio. Einer, sagt Marjolein Lubbers, eine der beiden Veranstalter, käme sogar extra aus Bangladesh.

Raritäten. Hier ein Album von den Marvelettes.
Raritäten. Hier ein Album von den Marvelettes.

© ARC Record Planet

Willkommen im Wahnsinn also. In einer seltsamen und auch etwas verwirrenden Welt. Um was es hier genau geht? Natürlich um Vinyl, auch um teures bis sauteures Vinyl. Um einen Tonträger also, der in den Neunzigern als so gut wie tot galt und der seit dem Niedergang der CD eine wundersame Wiederauferstehung erlebt. Neue Zahlen des „Bundesverbandes Musikindustrie“ zeigen, dass Vinyl in Deutschland weiterhin ein Nischenprodukt bleibt und der Anteil von Schallplatten im Gesamtvolumen verkaufter Musik immer noch kaum messbar ist, aber er steigt auf niedrigem Niveau prozentual stark. Der Verkauf von CDs ist dagegen weiter leicht rückläufig. Downloads und Streamings nehmen zu.

Raritäten. Hier ein Album von The Who, das auch auf der Messer gehandelt wird.
Raritäten. Hier ein Album von The Who, das auch auf der Messer gehandelt wird.

© ARC Record Planet

Für die einen ist Musik längst etwas geworden, das sofort verfügbar sein soll, das man aus dem Netz herunterlädt, sich kurz auf dem Laptop anhört und dann wieder auf der Festplatte vergisst. Andere dagegen finden wieder verstärkt Vergnügen darin, sich für vielleicht auch mal zu viel Geld eine Schallplatte zu kaufen mit einem richtig tollen Cover, die man bereitwillig vor dem Hören von Staub befreit und zu deren Knistern man es sich wohlig auf der Couch bequem macht. Die Schallplatte erlebt eine Renaissance als Erlebnisprodukt für Genießer. Die CD dagegen spielt auch in Utrecht so gut wie keine Rolle. Unter Vinylliebhabern gilt sie als hässliches Wegwerfprodukt aus Plastik ohne Sammlerwert und wird für 50 Cent das Stück verkauft.

Was man auf der Börse vor allem erleben kann ist, wie sich die Wertschätzung einer Schallplatte immer stärker von ihrem musikalischen Inhalt löst. Miro Golic, ein Händler aus Salzburg, der auf Progressivrock der frühen Siebziger aus dem ehemaligen Jugoslawien spezialisiert ist, sagt: „Die Leute kaufen die Platten als Geldanlage. Für bestimmte zahlen sie 500 Euro, weil sie wissen, dass sie bald mehr wert sind. Die Raritätensammler sind nicht unbedingt Musikliebhaber.“

Raritäten. Auch Fußballstar Pelé hat sich mal sängerisch betätigt.
Raritäten. Auch Fußballstar Pelé hat sich mal sängerisch betätigt.

© ARC Record Planet

Sind Vinylschallplatten, zumindest bestimmte, also das neue Gold, etwas für den Safe, wovon man hofft, dass es immer wertvoller wird? Ein Händler aus Frankfurt, der seit zwölf Jahren regelmäßig nach Utrecht fährt und der wie die meisten Plattendealer nicht namentlich in der Zeitung auftauchen will, vergleicht die Platten eher mit Aktien. Der Kurs der Beat-Aktie, also Beatles-Platten aus den Sechzigern, der in den letzten Jahren hoch war, sei inzwischen gefallen, sagt er. Die Platten einer begehrten „Beat Club Edition“ habe er glücklicherweise vor ein paar Jahren verkauft, die teuerste für 2800 Euro. Um eine Mustersingle der Beatles hätten sich zwei Engländer fast geprügelt, „obwohl deren Preis in die Tausende ging“. Doch diese Summen könne er mit Beat jetzt nicht mehr erziehlen. Wie die meisten hier in Utrecht setzt er jetzt auf Krautrock aus Deutschland und Progressive Rock aus England. Beide Genres wurden musikhistorisch lange verkannt und waren zu ihrer Zeit kommerziell nicht besonders erfolgreich. Heute gelten sie musikalisch als rehabilitiert, aber von vielen dieser Platten wurden von den bei Sammlern so gefragten Erstpressungen nur geringe Stückzahlen gepresst, was beste Voraussetzungen für den Raritätenmarkt sind. „Monster Movie“ beispielsweise, die erste Platte der deutschen Band Can, die damals in Kleinstauflage auf dem Label Scheisshouse Records herauskam, sei heute, so der Frankfurter Händler, so gut wie unauffindbar und werde zwischen 2000 und 5000 Euro taxiert.

Doch was für Leute geben tatsächlich so viel Geld für eine einzige Schallplatte aus? Das seien Leute, denen das einfach und schnell verdiente Geld locker in der Tasche sitzt, sagt Miro Golic. „Also Russen.“ Die Sammler aus Moskau, so Plattenbörsen-Veranstalterin Marjolein Lubbers, stellen den größten Anteil der angemeldeten Besucher, noch vor den Londonern. Und über die russischen Sammler kursieren auch die irrsten Geschichten auf dieser Börse. Einer der vielen aus Berlin angereisten Händler, der lieber inkognito bleiben möchte, erzählt, dass er vor ein paar Jahren auf dem Gang über einen völlig betrunkenen Russen gestolpert sei. „Zwei Stunden später hat der bei mir für 2000 Euro Platten gekauft."

Am Stand eines Krautrockspezialisten, der gerne als „Volker aus dem Ruhrgebiet“ vorgestellt werden möchte, sind Käufer gerade in Aktion zu erleben. Da zeigen drei Männer auf eine Platte von The Open Mind, einer englischen Psychedelic-Band aus den späten Sechzigern, die der englische „Telegraph“ einmal in die Top Ten der sammelbarsten Platten aller Zeiten aufgenommen hatte. 1100 Euro sollte sie kosten. Innerhalb von zwei Minuten einigt man sich auf 850 Euro. Der Käufer ist zufrieden. „Geht mehr ab als die erste Platte von Pink Floyd“, sagte er. Sein Kumpel Andrei holt bereitwillig seinen bisher größten Fang zur Besichtigung heraus: „Breathe Awhile“ von Arcadium, ebenfalls englischer Psychedelic-Rock aus dem Jahr 1969. Hat 1500 Euro gekostet. 800 Euro hat er allein für den Flug aus Moskau plus Übernachtung gezahlt, insgesamt wird er am Ende der Messe einige Tausender in Utrecht gelassen haben.

Die Börse ist aber nicht nur Sammlermarkt, sondern beliebter Umschlagplatz für Wiederverkäufer. Ein Händler aus Berlin, der sich „Plattenhändler vom Mauerpark-Flohmarkt“ nennt, nennt das Ganze „Kulturaustausch“. „In Berlin gibt es nur eine begrenzte Auswahl an Platten. In Utrecht tauscht man mit Händlern aus Frankreich oder Italien und erweitert so sein eigenes Spektrum für den Wiederverkauf daheim.“

So richtig skurril ist der „Dealer’s Day“. der Fachbesuchertag für Händler, die hoffen, bei ihren Kollegen aus anderen Ländern günstige Platten zu finden, die bei der eigenen Kundschaft gefragt sind. Schon einen Tag vor dem offiziellen Börsenbeginn legt jeder Händler am eigenen Stand Ware aus und wühlt sich gleichzeitig fiebrig durch die Kisten der Kollegen. Morgens um sieben rasen die ersten Verrückten mit Klapprädern und Rollern durch die Halle – immer auf der Jagd nach Schnäppchen. Und das Geschäft boomt. Die Sammlerbörse sei in den letzten Jahren gewachsen, sagt Lubbers und erzählt vom stetig wachsenden Markt in Osteuropa und Ostasien. Wer den Irrsinn am vergangenen Wochenende in Utrecht erlebt hat, glaubt ihr jedes Wort.

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