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Kultur: Musik, die ihre Masken wechselt

Polystilistik, wie er sie als eigene Sprache entwickelt hatte, ist mit der Biographie des Alfred Garrijewitsch Schnittke aufs engste verbunden.Die Synthese in den Werken reflektiert, was das Leben an Erfahrung anbot, um der Musik Nahrung zu geben, um geistiger Besitz zu sein.

Polystilistik, wie er sie als eigene Sprache entwickelt hatte, ist mit der Biographie des Alfred Garrijewitsch Schnittke aufs engste verbunden.Die Synthese in den Werken reflektiert, was das Leben an Erfahrung anbot, um der Musik Nahrung zu geben, um geistiger Besitz zu sein.Es war kein leichter Weg, aber einer der intensiv erworbenen Möglichkeiten.Am Montag ist der russisch-deutsche Komponist, der zu den bedeutendsten der Gegenwart zählte, gestorben.Er erlag im Alter von 63 Jahren in einer Hamburger Klinik den Folgen einer Reihe von Schlaganfällen.Schnittke, der bereits 1985, 1991 und 1994 schwere Schlaganfälle erlitten hatte, soll auf Wunsch seiner Familie in Rußland beigesetzt werden.

Am 24.November 1934 in Engels, damals Wolgadeutsche Republik, geboren, war Alfred Schnittke Sohn einer aus deutscher Familie stammenden Mutter, Lehrerin von Beruf, indes sein Vater, ein in Frankfurt am Main geborener Jude russischer Herkunft, 1926 in die Sowjetunion emigriert war und als Journalist und Übersetzer arbeitete.Die Nachkriegsjahre 1946 bis 1948 brachten für den jungen Schnittke neue Einsichten, da der Vater sowjetischer Besatzungssoldat in Wien war und dem Sohn dort Klavierunterricht erteilen ließ: Mozart und Schubert traten in sein musikalisches Bewußtsein.Vielleicht auch schon Anton Bruckners Religiosität, auf die er später in der zweiten Symphonie "St.Florian" für Kammerchor und großes Orchester (1979) Bezug nahm.Überhaupt spiegelt die Symphonik alle Erfahrung: Dodekaphonie, deutsche Musikgeschichte von Bach bis Mahler, jüdische, russisch-orthodoxe, katholische, protestantische Thematik.1983 erst konvertiert der Komponist vom jüdischen Glauben des Vaters zum Katholizismus der Mutter.Der Heilige Franz von Assisi, dessen Sonnengesang Alfred Schnittke 1976 für zwei gemischte Chöre und fünf Instrumente vertont hatte, galt ihm als eine Schlüsselfigur des modernen Denkens.

Nach dem Wienaufenthalt folgte in Moskau die gründliche Ausbildung: zunächst als Chordirigent an einer Fachschule, dann am Konservatorium in den Fächern Komposition, Kontrapunkt und Instrumentation.Bevor er freischaffender Komponist wurde, lehrte er von 1961 bis 1972 am Moskauer Konservatorium.Ein Moskaubesuch Luigi Nonos 1963 gilt als wichtige menschlich-künstlerische Begegnung Schnittkes, der sich mit der Musik Hindemiths, Strawinskys und Schönbergs schon während der Stalinära hatte auseinandersetzen können.Bald nach dem Moskauer Aufenthalt des Kollegen Nono bekam Schnittke Verbindungen zu Karlheinz Stockhausen, Henri Pousseur, György Ligeti und Krzysztof Penderecki.

Als eine größere Öffentlichkeit des Westens auf den sowjetischen Komponisten aufmerksam wurde, der 1990 auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt und abwechselnd in Moskau und Hamburg lebte, hatte er die Schaffensphasen schon hinter sich, die er als Klavierkonzertromantik, neoklassizistische Schulweisheit, Synthesenversuche aus Orff und Schönberg bezeichnete.Dem reinen Rationalismus der problematisch gewordenen seriellen Musik und ihrem "bereits überfüllten Zug" schwor er um 1968 ab, um über die verschmähte Tonalität zu seiner Polystilistik zu finden, vermittelnd zwischen tonalem und atonalem Material.

Mitglied des Komponistenverbands der UdSSR, nahm Schnittke schließlich staunend seinen "Siegeszug" im Westen zur Kenntnis: ein Schnittke-Festival in Stockholm, Porträts unter anderem in Berlin, Aufträge auch vom Berliner Philharmonischen Orchester, den Berliner Festwochen, Erfolge an der Hamburgischen Staatsoper und beim Musikfest der Wiener Konzerthausgesellschaft.Er war Mitglied der Akademien der Künste Bayerns und Berlins.

Als Versuch eines Stilspiels hat er im Gespräch die schöpferische Haltung seines "Concerto grosso II" bezeichnet, das 1982 in der Berliner Philharmonie uraufgeführt wurde.Stilspiele haben mit Tradition zu tun, mit Erbe und Verfremdung bis zu vehementer Aggressivität oder absurdem Theater, mit neuer Empfindung.Umgang mit barocken Mustern, B-A-C-H-Zitat, "Moz-Art", "Minnesang" und eine Bearbeitung von "Stille Nacht" bezeugen eine Affinität, die der deutschen Abstammung Rechnung trägt wie andererseits eine "Widmung für Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch" dem Kulturkreis des Heimatlandes.Beschäftigung mit über vierzig Filmmusiken - 1977 ging der Goldene Bär der Berlinale an den Film "Aufstieg" von Larissa Schipitko mit der Musik von Schnittke - mag zur schillernden Vielschichtigkeit des anderen Schaffens beigetragen haben.

Als "Zeichen größter Bewunderung und herzlichsten Dankes" dem Freund Gidon Kremer zugeeignet, integriert das vierte Violinkonzert Tonmaterial "aus Monogrammen von Gidon Kremer, von mir und - im letzten Satz - von noch drei anderen verwandten Seelen, Edison Denissow, Sofia Gubajdulina und Arvo Pärt", aber auch "schöne Plüschmelodien".In der Tat entsteht in dem viersätzigen Werk, das in der wahlverwandt leuchtenden Berliner Interpretation Gidon Kremers (1984) bis in die Bereiche violinistischer Besessenheit getrieben wurde, immer wieder der Eindruck, daß die Musik, das überschaubare, wiederkehrende thematische Material, die Masken wechselt.Dabei erschien die dauernde Zitataura als im Grunde melancholische Suche und die geläufige Etüdengeste, in die der Solist sich gegen die Gewalten des Orchesters versteigt, voraussehbar dazu gemacht, der "Cadenza visuale" anheimzufallen.Das ist szenische Musik, der Geiger als Pantomime mit hochfliegendem Bogenschwung tonlos, aus der Fülle des Klangs und der Möglichkeiten, die einem Gidon Kremer zu Gebot stehen, das Bild der lebenden Aufziehpuppe.Solche kritische Befragung, in ihren Mitteln nicht immer unerprobt, wird zum vitalen Ereignis, weil sowohl der Komponist als vor allem auch sein Solist hypnotisiert sind vom Gegenstand "Konzert für Violine und Orchester".

Die Helden im Leben des Musikers, soweit sie kompositorisch zur Rede standen, waren neben Franz von Assisi keine Geringeren als Peer Gynt und Faust."Peer Gynt" heißt ein dreiaktiges Tanzepos, das John Neumeier anregte und choreographierte, ein gemeinsamer Triumph des Hamburger Ballettchefs und des Komponisten 1989.Schnittkes "Faust"-Oper wurde 1995 als Auftragswerk an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt, im selben Jahr, in dem die Wiener Staatsoper seinen "Gesualdo" zeigte.

1991 war der Komponist von seinem zweiten Schlaganfall ins Koma geworfen worden.Trotzdem konnte er seine erste Oper, "Das Leben mit dem Idioten" auf ein Libretto von Viktor Jerofejew, entworfen vor dem Zerfall der Sowjetmacht, noch fertigstellen: sie wurde 1992 in Amsterdam mit standing ovations aufgenommen.Im Juni 1994 folgt der dritte Schlaganfall.Von dessen Folgen hat sich Schnittke nie mehr richtig erholt.Rechtsseitig gelähmt, komponierte er dennoch bis zum Schluß, wobei er mühsam die linke Hand über das Notenpapier führte.Seine neunte Symphonie wurde in diesem Juni in Moskau uraufgeführt.

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