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Musik: Die Schweiger

Barenboims Bruckner mit der Staatskapelle Berlin

Dieses Konzert steht im Zeichen des Außerordentlichen. Die Achte ist verklungen, die längste unter den niemals raschen Bruckner-Symphonien, das letzte Bruckner-Finale. Und der Dirigent im Beifallssturm macht eine Reverenz vor seinem Publikum, die nicht nur Dank für den Applaus meint, sondern besonders Dank fürs Zuhören. Wenn Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin längst ein partnerschaftliches Ensemble bilden, so kommt an diesem denkwürdigen Abend in der Philharmonie ein dritter Partner hinzu: das Publikum. Sein gebanntes Schweigen trägt die Interpretation, weil es jeder Generalpause zusätzliche Tiefe zu verleihen scheint.

Arnold Schönbergs Melodram „A Survivor from Warsaw“, das wegen seiner Humanität der Brucknermusik angemessen ist, geht voraus, ohne spontane Gefühlswirkung zu erreichen. Dieses expressive Bild des Grauens nach einem Zeugnis aus dem Warschauer Ghetto, darin die Brutalität des Feldwebels, das Abzählen der Todgeweihten, ihr frommes Lied „Shema Yisroel“, führt hier und heute allzu glatt zur Tagesordnung des Musikbetriebs mit Blumen und Rampenküsschen. Jene Ambivalenz zwischen Identifikation und Scheu vor der Identifikation, die bei Fischer-Dieskau von der Sprechrolle des traumatisierten polnischen Juden ausging, kann aus der minutenkurzen Komposition eine Passion der Menschheit machen. Nun ergibt sich mit der Kunst der „weißen“ Stimme des Sängers Hanno Müller-Brachmann eher ein plakatives Konzertstück.

Die Schweigeminute aber kommt nach dem Fortissimo mit den getürmten Themen Bruckners. Dabei stehen die leisen Schlüsse der Symphonie – beim ersten Satz mit der „Totenuhr“ der Pauke und dem tiefen Pizzikato, beim Adagio nach Beckenschlägen und Harfenklängen mit der verwehenden Melodie der ersten Violinen – in der gefühlten Dichte den Steigerungen nicht nach. Barenboims dirigentische Souveränität ist im Lauf der Zeit so gewachsen, dass die Staatskapelle ihm mit seiner Ausdrucksmusik gleichsam entgegenkommt. Alles atmet und klingt! Was es bedeutet, im dritten Satz mit der schwierigen Angabe „Feierlich langsam, doch nicht schleppend“ die Tempi organisch zu differenzieren, das ereignet sich in dieser Interpretation aus Präzision und Herz. Sybill Mahlke

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