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Kultur: Musik gibt es auch ohne Menschen

Von Rührmaschinen bis Richard Wagner – eine kleine Alltagsgeschichte der Töne / Von Christiane Tewinkel

Christiane Tewinkel, Lesern dieser Zeitung als Musikkritikerin vertraut, hat ihr zweites Buch geschrieben. Nach einer „musikalischen Betriebsanleitung“ unter dem Titel „Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile?“ stellt sie jetzt „Eine kurze Geschichte der Musik“ vor (DuMont, Köln, 250 Seiten, 14,90 €). Mit leichtem Ton streift sie durch die Musikgeschichte von der griechischen Antike bis in die unmittelbare Gegenwart. Im Folgenden drucken wir einen Auszug.

Unser Alltag klingt anders als der unserer Ahnen noch vor ein oder zwei Jahrhunderten. Grillengezirpe mag es in früheren Zeiten gegeben haben. In den Städten hörte man das Klappern von Hufen auf Kopfsteinpflaster und dann und wann eine Militärtrommel. Erntelieder gab es, die wir nicht mehr kennen, glanzvolle Gottesdienstmusiken am Sonntag. Abends hat man, wenn es noch genügend Licht gab, harmonisch bei einer Handarbeit zusammengesessen, still geschwiegen oder sich etwas erzählt und ein paar Lieder gesungen.

Na ja. Vielleicht auch nicht. Doch Musik klingt immer noch, überall. Die rauschenden Kastanien bei uns im Innenhof oder die Teigrührmaschine von der Bäckerei im Erdgeschoss, die das Haus in den Schlaf brummt. Jeder sollte so etwas haben, als letzten Widerhall einer Musik, die es auch ohne Menschen gibt, jenem Rauschen gleich, das die Alten meinten, wenn sie von der ewigen Harmonie der Sphären sprachen. Das Rotkehlchen singt auch in der Stadt, der Buchfink schlägt am hellen Tag. Schon in der Liebeswelt von Tristan und Isolde oder bei den jungen Leuten, die Boccaccio aus dem pestverseuchten Florenz fliehen ließ, hatten Vögel für paradiesische Unterhaltung gesorgt.

Durch das geöffnete Küchenfenster höre ich den Radioapparat meiner Nachbarin. Der Deutschlandfunk sendet am Morgen Barockmusik. Frühe Klänge zu früher Stunde, streichstreich, tackertacker – Jingles lassen sich hervorragend ausschneiden aus einer Musik, die den einkomponierten Entwicklungsdrang von Sonate und Symphonie noch nicht kennt.

Der Kühlschrank schnappt zu. Soundingenieure kümmern sich um die Geräusche unseres Alltags. Motoren sollen brünftig klingen, Autotüren diskret und zuverlässig zuschlagen. Der Dudelsackpfeifer auf dem Marktplatz, fast wie bei Alfons von Kastilien, nur wärmer wird es damals gewesen sein. Aber die Quinten sind schön. Ein Martinshorn, das weit draußen klingt. Quarten tönen auch heute noch besonders rein und scharf.

Mancher findet, unsere Welt sei so grau geworden, weil es in ihr bloß technischen Lärm gebe – Automatensirren, Maschinenlärm, Motorengeknatter. Aber Heizungen können doch auch leise rauschen? Computer kaum Geräusche machen? Manche Menschen sind in der Lage, aus dem Sirren einer Lampe eine Tonhöhe herauszuhören.

Unser Ohr hat tatsächlich immer geöffnet. Sogar für Klänge aus fernen Ländern und längst vergangenen Zeiten. Doch wenn kleine Mädchen aus Nagasaki ihre Madonna-CD zur Seite legen und sich wieder ans Klavier zu ihrer Mozart-Sonate setzen, wissen sie nicht, wie es ist, in Salzburg aufzuwachsen. Aber das wissen die meisten von uns auch nicht. Wenn Italiener auf türkischen Hochzeiten in Köln eingeladen sind, hören sie die Musik von davul (Trommel) und zurna (Schalmei) wahrscheinlich zum ersten Mal. Und der ostwestfälische Waldorfschüler, der GangstaRap hört, kann sich vermutlich nicht vorstellen, wie es ist, wenn die kleine Schwester schnüffelt und der ältere Bruder schon wieder einsitzt. Die Ethnomusikologen, die sich mit der Musik anderer Kulturräume beschäftigen, wissen nur zu gut, dass wir immer nur Ausschnitte verstehen können. Was jenseits davon liegt, bleibt fremd.

Musik mag ein Bündel kleiner Etiketten mit sich bringen: Sage mir, was du spielst und hörst, und ich sage dir, wer du bist. Aber universell ist sie doch. Rhythmus ist wichtig – noch das regelmäßige Treten beim Fahrradfahren, das beruhigende Hin und Her von Scheibenwischern erinnert uns daran. Wir brauchen Klang, Stimme, Körperlichkeit und Stille. Wir mögen Musik einfach von Natur aus.

Am Abend Konzert. Daniel Barenboim dirigiert in der Berliner Philharmonie sein West-Eastern Divan Orchestra. Beethovens Neunte wird gespielt, mit Schillers „Ode an die Freude“. Dass die europäische Musik dem Orchester aus Israelis und Palästinensern nicht vertraut ist, hört man ihm etwas an. Im Nahen Osten werden andere Instrumente gespielt, und Streicherbarockmusik, die morgens aus dem Radio schallt, wird es dort nicht geben. Doch als am Ende die Zugabe erklingt, Vorspiel und Isoldes Liebestod aus Wagners „Tristan“, geschieht etwas Wunderbares. Plötzlich ziehen sich von überallher die Fäden zusammen: Im mittelalterlichen Europa ließ sich Gottfried von Straßburg von der Liebesgeschichte eines anderen Dichtersängers inspirieren; im hohen 19. Jahrhundert dachte Richard Wagner an seine geliebte Mathilde Wesendonck und schrieb den Stoff für ein Musiktheaterstück im neuen Stil um; um 1920, als auch der Tristanakkord nicht mehr weiterhalf, ersann Schönberg seine „Methode“. Daniel Barenboim sagte über Richard Wagners Antisemitismus einst lakonisch, so etwas habe zu dessen Lebenszeit fast zur Normalausstattung gehört. Nun dirigiert er ein palästinensisch-israelisches Orchester, das zeigt, was es mit dem optimistischen Urgrund des Symphonie-Genres tatsächlich auf sich haben könnte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Als ich spät abends nach Hause komme, brennt oben noch Licht. Ich klingele bei meinem Nachbarn. Gestern hatte ich ihn vor dem Club drüben auf der Greifswalder Straße stehen sehen. „Was ich dich schon immer fragen wollte“, sage ich, als er die Tür öffnet, „was ist das eigentlich für eine Musik, die du immer so laut hörst?“ Er schaut mich von oben bis unten an. Er trägt Schwarz, ich trage Grün, er hat Turnschuhe an, ich einen Wildlederrock, er drückt seine Zigarette aus, ich poliere meine Brille. „Marilyn Manson“, sagt er. „Bist du von einem anderen Stern, oder was?“

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