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Kultur: Musikzimmer: Die Ortung der Ohren

Stellen Sie sich vor, Sie haben den langsam anschwellenden, ursprünglich sehr leisen elektronischen Ton, den Sie vor einigen Minuten gestartet haben, längst vergessen. Sie sind in einem anderen Zimmer, mit etwas anderem beschäftigt.

Stellen Sie sich vor, Sie haben den langsam anschwellenden, ursprünglich sehr leisen elektronischen Ton, den Sie vor einigen Minuten gestartet haben, längst vergessen. Sie sind in einem anderen Zimmer, mit etwas anderem beschäftigt. Nur aus einem seitlichen Winkel ihrer Aufmerksamkeit haben Sie mitbekommen, daß der Ton lauter und strukturierter geworden ist. Sein leichtes Pulsieren in Lautstärke und Tonhöhe auf einer insgesamt langsam ansteigenden Energiekurve haben Sie nicht bewusst zur Kenntnis genommen. Sie haben diesen Eindruck, ohne ihm Aufmerksamkeit zu schenken, in ihre Umgebungswahrnehmung eingepasst. Ihre Verrichtungen an diesem Papierstapel vor Ihnen zwingen Sie jetzt aber, den Kopf leicht zu wenden und nun - stürzt ihre Umgebung plötzlich ein. Der Ton kippt in eine Art Gegenteil - drehen Sie den Kopf zurück, klingt er wieder wie vorher. Dabei in beiden Stellungen lauter werdend.

Normalerweise kennt man von Ryoji Ikeda kurze, sonische Momentgestaltungen, die versuchen, so weit wie möglich den Eindruck eines musikalischen Prozesses zu vermeiden. Ihm geht es meist um einen Ton und dessen Schicksal im Raum. Sein An- und Abschwellen, sein in den Bereich des Hörbaren Ein- und wieder Austreten, seine Gestalt im Raum: Wie würde es aussehen, wenn man ihn in Farbe tunken und seine Spuren verfolgen könnte?

Ikeda, so der Eindruck, gestaltet Töne nach Maßgabe ihrer virtuellen Farbspur. Natürlich sind dies keine einfachen Klaviertöne, sondern komplexe Tonballungen, die elektronische Musik im alten Sinne fortsetzen: nicht, wie bei der Post-Techno-Szene, die mit "elektronisch" eher die Programme und Hardware meint, mit der man den Ablauf von Tönen organisiert, mit denen man Töne einfängt oder bearbeitet. Bei Ikeda geht es wie einst bei der alten Neuen Musik um "neue Töne", die elektronisch gewonnen werden. Natürlich nicht so naiv, sondern unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es neue Töne überhaupt nur gibt, wenn es neue Formen der Wiedergabe und der Rezeption gibt, bessere Verstärker, bessere Boxen, bessere Ohren und schließlich bessere Köpfe im Raum. Man versteht ihn also besser, wenn man seine Sound-Skulpturen in der "Spiral Hall" in Tokio hört, wo Sony seine neuesten Boxen testet: Böswillige wollen Ikedas Sounds oft einfach als Belastungstests von Equipment verstehen. Doch die Sound-Skulptur ist bei ihm nicht die blöde Metapher, die uns überall begegnet, sondern ein seriöses Modell seiner Musik.

Der oben beschrieben Eindruck bezieht sich auf Ikedas letzte Doppel-CD, "Matrix". Der erste Teil von "Matrix" füllt nämlich Räume in genau dem Sinne aus, daß jede Bewegung, jeder Schritt, jeder Kopfwackler den Sound umwirft, umkehrt, modifiziert, verstärkt. Der Eindruck, es mit einer interaktiven Akustikinstallation zu tun zu haben, deren Output unmittelbar mit der individuellen Körperstellung der Zuhörer interagiert, mischt sich schnell mit dem klaustrophoben Gefühl, dem Sound nicht entrinnen zu können. Im Nebenzimmer mag er leiser werden, aber er bleibt total. Er schluckt die Alltagssounds und integriert sie so, dass man meint, auch die Lastwagen würden leiser oder tiefer, wenn man sich bückt. Die Frage bei einer derart menschenfreundlichen Interaktivität ist natürlich die der Grenze des "Listening Space" - es gibt erstmal keine, er wird total und überwältigend.

Die Töne leben in Deinem Ohr. Sie werden nicht emittiert aus einem Speaker, sondern bevölkern Deinen Körper. Das Sie muss ich aufgeben, lieber Leser, diese Musik tritt einem nahe, nicht wie andere Musik über Emotionen, sondern auf der körperlichen Hardware-Ebene duzt sie einen mit ihrem existenziellen Ehrgeiz. Dieser Distanzverlust ist sowohl der riesige Spaß und die ideologische Grenze dieser Musik.

Dies ist eine Musik für Körper, bis an die Grenze gedacht, nicht für Subjekte. Ikeda symbolisiert seine Komposition durch eine Matrix aus Einsen und Nullen. Die zweite CD wird durch eine andere Matrix repräsentiert, bei der die Plätze der Nullen und Einsen ausgetauscht sind. Für einen Moment dachte ich, dies sei tatsächlich das Bauprinzip der Doppel-CD: zwei digitale Kompositionen, bei denen auf der untersten Codebene alle Nullen und Einsen einer Komposition durch ihr Gegenteil ausgetauscht werden, das digitale Sound-Negativ. Das kann noch keiner - aber genau solche Projekte sind Ikeda zuzutrauen.

Nächste Woche: Lutz Hachmeister

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