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Kultur: Mutation eines Monsters

Kindheit des Kannibalen: Thomas Harris erzählt in seinem neuen Roman, wie Hannibal Lecter traumatisiert wurde

Man ahnte es bereits nach der Lektüre und der Verfilmung von „Hannibal“, dem letzten Roman von Thomas Harris über den Menschenfresser Hannibal Lecter. Dieses Monster verschwindet nicht so schnell aus der Film- und Literaturgeschichte. Denn es lässt sich noch einiges aus ihm herausholen, nicht zuletzt Geld. Dank dem Schauspieler Anthony Hopkins hatte Lecter ein ultimatives Gesicht bekommen, als eine der erfolgreichsten Figuren der Popkultur war er ohnehin zur ewigen Rückkehr verdammt. Und nun hatte Harris in „Hannibal“ auch noch begonnen, seinem monströsen Helden Ansätze einer regelgerechten Biografie auf den verfeinerten Leib zu schneidern.

Dabei kam ein Trauma zum Vorschein, mitsamt historischer Dimension: Hannibal musste als Zwölfjähriger erleben, wie versprengte Soldaten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs sein Elternhaus in Litauen abfackelten und seine Eltern töteten. Und, schlimmer noch, wie seine kleine Schwester ermordet und von Plünderern verspeist wurde. Da war klar, dass das Böse in Lecter nicht ganz grundlos lauerte, dass es „gemacht“ war und Lecter nur zu gut wusste, warum er das Schweigen der Lämmer im gleichnamigen Roman so deuten würde: „Es ist das Leid, das sie antreibt, das Leid vor ihren Augen, ein Leid, das niemals enden wird, nie“.

Von dem Leid, das Lecter antreibt und ihn in naher Zukunft nicht so schnell wird aufhören lassen, Menschen bestialisch zu töten und genussvoll zu verspeisen, davon erzählt Thomas Harris nun ausführlich in seinem vierten Hannibal-Roman „Hannibal Rising“. Er ist das Prequel, in dem der Autor zum Ursprung des Grauens vorstößt. Versteht sich, dass fast zeitgleich mit seiner Veröffentlichung die Verfilmung in die Kinos kommt: Deutscher Kinostart ist am 15. Februar, Regie führte Peter Webber, in den Hauptrollen sind Gaspard Ulliel als Hannibal Lecter und Gong Li als dessen japanische Stieftante zu sehen

Alles beginnt im Juni 1941, als Hitler Russland den Krieg erklärt und die deutsche Wehrmacht Osteuropa heimsucht und nach Russland vorstößt. Hannibals Eltern fühlen sich nicht mehr sicher auf ihrer Burg und flüchten mit dem Sohn, der Tochter Mischa und ein paar Dienstboten in ein versteckt gelegenes Jagdhaus, wo sie Hitlers Russlandfeldzug zunächst unbeschadet überstehen. Es sind wichtige Jahre im Leben Hannibals: In dieser Zeit werden die Grundlagen für seine überbordernde Intelligenz gelegt. Ständig ist der Junge in Bücher vertieft, er liest Euklids „Elemente“ und vermag es nach dieser Lektüre, anhand der Länge seines Schattens die Höhe des Jagdhauses zu berechnen oder mithilfe von Fliesenabdrücken den Satz des Pythagoras zu demonstrieren.

Gegen Ende des Kriegs gerät die Familie zwischen die Fronten von Russen und Deutschen und wird Opfer von litauischen Kollaborateuren, die von einem gewissen Vladimir Grutas angeführt werden. Schwer traumatisiert und stumm geworden überlebt Hannibal als einziger den Krieg. Er kehrt zunächst in die zu einem Waisenhaus umfunktionierte Burg Lecter zurück, bevor er schließlich bei seinem Onkel Robert Lecter, einem Künstler, und dessen japanischer Ehefrau Lady Murasaki in einem Château in Frankreich Aufnahme findet.

Obwohl dieser Hannibal-Roman mit seinen 350 Seiten vergleichsweise schlank geraten ist, nimmt Thomas Harris sich Zeit und versucht gar nicht erst, einen schnellen, atemberaubenden Thriller zu erzählen. Der Auftrag, den Hannibal sich später selbst erteilt, ist schließlich keine Überraschung: Er wird Grutas und seinen Spießgesellen nachstellen. Bevor das aber geschieht (und dann routiniert und leider völlig spannungsfrei durchexerziert wird), schildert Harris das Leben des jungen Lecter und pinselt dessen Heranwachsen in typisch kurzen Kapiteln mit viel historischem Kolorit aus. „Hannibal Rising“ handelt von der französischen Kollaboration während der Nazizeit, vom Geschäft mit geraubten Kunstwerken nach dem Zweiten Weltkrieg, und von fern spielt selbst die Atombombe von Hiroshima eine Rolle.

Bei all dem trägt der Roman selbst schon filmische Züge; auch am Drehbuch für die Leinwandadaption hat Thomas Harris mitgeschrieben. Da dominieren schon mal Zeit- und Ortsangaben die Kapitelanfänge, da pendelt der Text wie im Wechsel von Kameraeinstellungen blitzschnell zwischen Präsens und Imperfekt. Fehlen Harris die erzählerischen Mittel, etwa um beim jungen Hannibal einen halbwegs elaborierten Bewusstseinstrom zu erzeugen, so zeigt er sich doch als Meister der Ausstattung. Sei es die Burg Lecter mitsamt ihren Gängen und Kellern, seien es die verschiedenen Dachböden, auf denen Hannibal seine ersten Erfahrungen mit japanischen Stichwaffen und Masken macht. Oder sei es das anatomische Institut in Paris, in dem der angehende Mediziner Lecter seine ersten Sektionen durchführt – Harris’ Bilder strahlen kräftig und sind je nach Örtlichkeit schwarzweißgrau oder bunt, und selbst wenn Hannibal mit Lady Murasaki mithilfe von Blumen und Versen kommunziert und der Kitsch keine Grenzen mehr kennt, hat das noch seinen Reiz.

Nach und nach schält sich aus den vielen Handlungssträngen heraus, wie Hannibal Lecter zu dem Monster wurde, als das man ihn aus der bisherigen Trilogie „Der Rote Drache“ „ Schweigen der Lämmer“ und „Hannibal“ kennt: Kindheitstrauma, ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, erster Mord im Alter von 13 Jahren, schließlich Rachegelüste, die mal ganz rein sind, dann wieder genährt werden von den Alpträumen in Erinnerung an die Schwester und ihre Peiniger.

Man merkt aber auch, wie Harris krampfhaft versucht, Unvereinbares zu verbinden (und den unvermeidlichen fünften Hannibal-Roman zu retten): Er erklärt das Böse mit dem einmal erlebten Bösen, den Kannibalismus Lecters mit dem Kannibalismus von Mischas Mördern, beharrt aber gleichzeitig auf dem Unerklärlichen daran. So sagt ein Polizeiinspektor nach Hannibals erster Mordserie: „Sie wollen wissen, was er jetzt ist? Ich würde sagen, dafür gibt es noch kein Wort. In Ermangelung einer besseren Bezeichnung werden wir ihn ein Monster nennen.“ Oder Lady Murasaki erkennt: „Irgendetwas fehlte hinter seinen Augen.“

Das Böse, das aus dem Nichts kommt, das urplötzlich da ist, das genuin Monströse, das an Hannibal Lecter genauso faszinierte wie abstieß – es dürfte mit diesem Roman seine Absolutheit verloren haben. Beruhigend ist allerdings die Erkenntnis, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und seinen unzähligen Schrecken nur von sehr, sehr wenigen Monstern heimgesucht wurde. Hannibal Lecter bleibt einzigartig.

Thomas Harris: Hannibal Rising. Roman. Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2006. 345 Seiten, 19, 95 €

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