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Ein Flüchtling wird am 04.11.2015 an der deutsch-österreichischen Grenze nahe Wegscheid (Bayern) von einem Bundespolizisten durchsucht.

© Armin Weigel/dpa

Mythos Rechtsbruch: Das Buch "Die Zauberlehrlinge": Deutschland zeigt sein europäisches Gesicht

Stephan Detjen und Maximilian Steinbeis rekonstruieren in dem Buch „Die Zauberlehrlinge“, wie es zu der "Rechtsbruch-These" nach der Flüchtlingskrise 2015 kam.

Als vor gut einem Jahr die Schriftsteller Uwe Tellkamp und Durs Grünbein in Dresden ihr Streitgespräch über Demokratie und Meinungsfreiheit in Deutschland und die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung führten, sprach Tellkamp unter anderem davon, dass es im September 2015 und den Wochen danach an den deutschen Grenzen einen „Rechtsbruch“ gegeben habe, man immer noch nicht wisse, „auf welcher Rechtsgrundlage Merkel eigentlich gehandelt hat“.

Obwohl die sogenannte Flüchtlingskrise nun fast vier Jahre zurückliegt und Deutschland gut damit zurecht gekommen ist, hält sich bis heute in rechtspopulistischen Kreisen und bei der AfD die Mär, es sei damals das Recht gebrochen worden. Die Bundesregierung habe nicht auf den Grundlagen von Gesetzen und der Verfassung gehandelt, sondern primär aus humanitären Erwägungen.

Von einer hartnäckig fortschleichenden „korrosiven Wirkung“ dieser Rechtsbruch-These sprechen nun der Chefkorrespondent des Deutschlandfunks, Stephan Detjen, und der Jurist und Schriftsteller Maximilian Steinbeis. Sie rekonstruieren in ihrem Buch „Die Zauberlehrlinge“, wie es zu dieser These kam, wer in Politik, Rechtswissenschaft und Medien Beiträge dazu geleistet hat und warum diese These ein „Mythos“ und nicht haltbar ist.

Di Fabio beteuerte, nie von einem "Verfassungsbruch" gesprochen zu haben

Es war der den Rechten nahestehende Staatsrechtler Ulrich Vosgerau, der im Dezember 2015 in der Zeitschrift „Cicero“ den Begriff von der „Herrschaft des Unrechts“ prägte. Dieser wurde wiederum von Merkels Intimfeind, dem damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer in einem Interview aufgenommen, und auch die einstigen ehemaligen Verfassungsrichter Udo Di Fabio und Hans-Jürgen Papier unterstrichen in einem Gutachten (di Fabio) und einem Interview (Papier), dass sich die Bundesregierung am Rande der Verfassungstreue bewegt hätte. Während di Fabio später beteuerte, nie von einem „Verfassungsbruch“ gesprochen zu haben, sagte Papier: „Die Flüchtlingskrise offenbart ein eklatantes Politikversagen. Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit.“

Nur war dem mitnichten so, wie es Detjen und Steinbeis in ihrem Buch ausführen. Im Kern dreht sich die Rechtsbruch-These darum, dass damals eben nicht nach Paragraf 18 des Asylgesetzes gehandelt worden sei, nach dem die Geflüchteten an der Grenze zurückgeschickt hätten werden müssen, eben weil sie aus einem sicheren Drittstaat, nämlich Österreich, ins Land gekommen waren. Doch die Bundesregierung, insbesondere Innenminister Thomas de Maizière, hat damals ganz im Sinne Europas gehandelt, das europäische Recht über das nationale gestellt und die sogenannte Dublin-III-Verordnung zur Anwendung gebracht. Das Dublin-Recht sieht zwar vor, dass Asylsuchende dort aufgenommen und geprüft werden, wo sie zuerst europäischen Boden betreten; und doch gibt es in der Dublin-III-Verordnung auch das „Selbstermächtigungsgesetz“, das Deutschland für sich in Anspruch nahm. Man erklärte sich aus Solidarität mit den überforderten EU-Nachbarn im September 2015 also dafür zuständig, die Fälle der vielen syrischen Geflüchteten genau zu prüfen. Welches EU-Land ist zuständig? Wo fand die Einreise statt? Haben sie woanders schon Asyl beantragt?

Zu leichtfertig hat die Bundesregierung die Rechtsbruch-Debatte laufen lassen

Ob EU-Rechtssprechung oder deutsche Asylgesetzgebung, Schengen oder Dublin: Die juristische Materie ist nicht gerade die zugewandteste, das dazu gehörige Vokabular nicht das smarteste. Doch Detjen und Steinbeis gelingt es, die Sachlage verständlich darzustellen. In Grundzügen, gerade im Fall der Ereignisse und Entscheidungsfindungsprozesse in den August- und Septembertagen des Jahres 2015, erinnert ihr Buch an Robin Alexanders 2017 erschienenen Bestseller „Die Getriebenen“. Alexander hat jene Zeit ebenfalls akribisch nachgezeichnet, kommt in „Die Zauberlehrlinge“ aber nicht gut weg, weil das Recht bei ihm nur ein blinder Fleck bleibe, so die Autoren: „Die juristischen Einwände der zuständigen Fachbeamten in der Besprechung am 13. September streift der Autor nur in einem Nebensatz, um sie dann mit dem saloppen Hinweise zu erledigen, sie seien ,übrigens unbegründet’ gewesen.“

Obwohl Detjen und Steinbeis der damaligen Bundesregierung eine gewisse Umsicht attestieren – und eben auch: rechtmäßig gehandelt zu haben –, werfen sie ihr doch vor, zu leichtfertig die Rechtsbruchsdebatte haben laufen zu lassen. Da sprechen sie von „Leisetreterei“ und einer „heimlichtuerischen und widersprüchlichen Kommunikationsstrategie“ der Verantwortlichen. Was nicht zuletzt, so der Vorwurf, den Aufstieg der AfD nachhaltig begünstigt habe. Am Ende propagieren Steinbeis und Detjen, dass das politische Feld nicht den „Geschichtenerzählern“ überlassen werden solle und man insbesondere mehr über Sinn und Funktionsweise des Europarechts aufklären müsse. Ihr Buch tut das – und erzählt, so es nicht zu umgehen ist, zumindest eine wahre Geschichte.

Stephan Detjen, Maximilian Steinbeis: Die Zauberlehrlinge. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 264 Seiten, 18 €.

Die beiden Autoren des Buchs diskutieren heute Abend mit der Rechtswissenschaftlerin Dana Schmalz und dem Politiker Philipp Amthor im Deutschen Theater in Berlin in der Schumannstraße

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