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Kultur: Na und? Wir bleiben

Deutschland schafft mich ab. 30 Autoren reagieren im „Manifest der Vielen“ auf die Sarrazin-Debatte

Dies ist ein Manifest, das keines sein will. Ein Manifest will kämpfen. Laut Wikipedia ist es eine „öffentliche Erklärung von Zielen und Absichten“, spitzt zu, pauschalisiert, vereinheitlicht. Dieses Manifest hat sich jedoch das Gegenteil auf die Fahnen geschrieben. Das Recht auf Differenzierung und Komplexität. Das Recht, als Deutscher moslemischen Glaubens nicht ausschließlich als Moslem gesehen zu werden, als der andere, der nicht dazu gehört. Deshalb besteht dieses Manifest nicht aus einem Slogan, sondern aus dreißig Sätzen, die aus dreißig Texten von dreißig deutschen Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern moslemischen Glaubens stammen.

Ein Satz lautet: „Zwanzig Jahre habe ich auf diesen Satz gewartet“. Gemeint ist die Aussage von Bundespräsident Wulff, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Ein anderer: „Muslime haben kein Exklusivrecht auf die Opferrolle.“ Ein dritter: „Wir rücken zusammen.“ Letzterer stammt von Hilal Sezgin; die Autorin firmiert als Herausgeberin und erklärt dem Moderator Ali Alsan bei der Buchpremiere im Maxim-Gorki-Theater, wie die Publikation zustande kam. Als letzten Herbst die Sarrazin-Welle durch die Medien schwappte, fragte Blumenbar-Verleger Wolfgang Farkas an, ob sie einen Essay gegen Sarrazins Thesen schreiben wolle. Wollte sie, aber mit anderen. Das Buch sollte sich auch nicht mit Sarrazins Thesen, sondern mit dem Stimmungswechsel im Windschatten von „Deutschland schafft sich ab“ beschäftigen und dem islamfeindlichen Klima Momentaufnahmen eines vielgestaltigen moslemischen Lebens in Deutschland entgegenstellen.

„Deutschland schafft mich ab“ heißt Sezgins Befund: Der aktuelle Diskurs hat zu einer unguten „Muslimisierung“ geführt. Früher war sie Philosophiestudentin in Frankfurt und Teil einer diskursiven Gemeinschaft. Früher war ihr Glaube ein Lebensaspekt unter vielen, doch neuerdings muss sie sich von guten Bekannten fragen lassen, wie sie zum Terrorismus stehe, und bekommt nach ihren Lesungen Listen in die Hand gedrückt, auf denen die Vorzüge des Christentums und die Nachteile des Islam aufgelistet sind.

Der Schreck sitzt tief, deshalb ihr „Wir rücken zusammen“. Diese Kollektivierung bringt aber auch eine Art mulmige Reserviertheit der acht Lesenden mit sich. Das „Wir“ tröstet und ist doch fiktiv, außerdem ein Skandal, weil von außen erzwungen. So oft der Moderator von der „Community“ spricht und launig das Bild von der orientalischen Großfamilie bemüht, so isoliert sitzen die Autoren auf der Bühne, als seien sie durch Glasscheiben voneinander getrennt.

Auch die Texte sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Deniz Utlu liest eine naive Fantasie über das Glück der ersten sieben Lebenssekunden, als noch keine Zuschreibung den Neugeborenen einschränkt. Hart geht die 22-jährige Kübra Gümüsay mit dem Mitleidshabitus vieler Muslime ins Gericht. Ekrem Senol, Gründer des Online-Magazins „Migazin“, empfiehlt, den Klischees der Nicht-Muslime mit ironischer Affirmation zu begegnen, und der Filmemacher Neco Celik erzählt unterhaltsam von dem Moment, als nach dem Mauerfall die Ossis für ihr Begrüßungsgeld anstanden und sich die türkischen Jungs fragten, wie sie an das Geld kommen könnten.

Thilo Sarrazin selbst wird kaum erwähnt und schrumpft zur Lachnummer. In Imran Ayatas Text sitzt der Erzähler am Ende mit Cousin und Mutter zusammen, die sich über die Aufregung nur wundern kann. Der Cousin sagt: „Sarrazin kommt und geht. Wir bleiben.“

Hilal Sezgin (Hg.): Deutschland erfindet sich neu. Manifest der Vielen. Blumenbar Verlag, Berlin 2011. 230 Seiten, 12,90 Euro.

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