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Kultur: Nach den Anschlägen: Die Dialektik der Angst

Es gibt keinen Tag, an dem nicht jemand seine mehr oder weniger konkrete Angst vor einem Krieg gesteht - oder damit prahlt. Es ist schwer auseinanderzuhalten.

Es gibt keinen Tag, an dem nicht jemand seine mehr oder weniger konkrete Angst vor einem Krieg gesteht - oder damit prahlt. Es ist schwer auseinanderzuhalten. Einige beschreiben ihre Angst glaubhaft. Anderen ist anzumerken, dass sie es nur richtig finden, Deutschland als bedroht anzusehen. Als meinten sie: Große Geschichte, komm zurück!

Wem nützt diese Angst? Braucht man sie, um den sozialen Frieden zu erhalten? Kann man noch fliegen? Kann man noch Bahn fahren? Kann man noch zu einem Fußballspiel oder Rockkonzert gehen? Die Bundesregierung sagt, wir lebten gefährdeter als früher, aber wir seien nicht konkret gefährdet. Sie sagt, dass wir uns mehr als zuvor gegen den Terror schützen müssen. Zugleich heißt es, es lägen keine Hinweise vor, dass Deutschland besonders bedroht sei.

Bewusst oder unbewusst wird das Gefühl geschürt, bedroht zu sein. Und die so genannten Trittbrettfahrer erweisen sich als Mitspieler, denn ihre fakes liefern täglich Nachrichten, die den Eindruck der Bedrohung wachhalten. Es ist ein Muster aus einschnappenden Reflexen auf drei Ebenen, das zu einer konfusen Wirklichkeitssicht führt. Solange es Trittbrettfahrer gibt, kann sich die Politik mit jedem konkreten Katastrophenszenario zurückhalten.

Doch die Beteuerung der Bundesregierung, Deutschland sei nicht bedroht, wird von Trittbrettfahrern entkräftet. Ist ein Fall als Fehlalarm geklärt, taucht der nächste auf, von dem man noch nicht weiß, ob er wiederum ein fake ist. Einerseits wollen die Deutschen ihrer Regierung glauben, andererseits - nicht zuletzt durch die Katastrophenszenarien der Nachrichten - haben sie das Gefühl, bedroht zu sein. Dieses Gefühl kommt der Regierung wiederum zupass. Denn mancher Beschluss gelingt jetzt so leicht wie nie.

"Wer in Angst vor solcher Bedrohung lebt, der ist nicht mehr frei", sagte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber. Mit diesem Satz wollte er der Bundesregierung Versäumnisse vorwerfen. Aber ihm gelingt damit weit mehr. Er beschreibt Angstgefühle als Schmiermittel für politische Repression: Zur Zeit wird ein Bewusstsein von persönlicher Bedrohung geschürt, ein Gefühl der Unfreiheit verstärkt. Damit und mit den kleinen Becksteins der Republik lässt sich dann politisch arbeiten.

Was sind die Fakten, die eine Angst vor dem direkten Angriff begründen? Die Milzbranderreger in Florida haben zu einem Todesopfer geführt. Inzwischen gibt es in den USA weitere bestätigte Fälle von Milzbrandübertragung. Die Bundesregierung hat eine zentrale Informationsstelle eingerichtet, die über Schutz vor biologischen Waffen Auskunft gibt. Gleichzeitig sagt sie, es bestehe keine Gefahr für Deutschland. Und im Bundestag werden lange nicht vorstellbare Beschlüsse gefasst, die eine neue Qualität innerer Sicherheit anstreben. Milzbrandfälle in Europa gibt es bisher nicht. Aber die Angst.

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