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Gefährdeter Sieg. Nur in Tunesien (hier eine Szene von 2011) war der Arabische Frühling erfolgreich. Doch auch nach der Revolution wird noch gefoltert.

© AFP

Nach den Revolutionen: Aufklärung ist ein arabisches Wort

Was hat die Philosophie mit dem Arabischen Frühling zu tun? In Kassel diskutierten nordafrikanische und deutsche Denkerinnen über das Erbe der Diktaturen und verschiedene Lesarten der Vernunft.

Tanwir heißt Aufklärung. Vor mehr als 20 Jahren, lange bevor Syrien im Krieg in Schutt und Asche fiel und Ägypten seinen kurzen, brutal erstickten demokratischen Aufbruch erlebte, wurde in beiden Ländern um diesen Begriff gestritten. Wem gehört die Aufklärung? Die Frage war in beiden Ländern die gleiche, nicht aber die jeweiligen Kontrahenten. In Ägypten reklamierten säkulare, zugleich staatsfromme Intellektuelle Tanwir für sich – gegen die Ansprüche muslimischer Vordenker. In Syrien besetzten Oppositionelle den Begriff, um Regimekritik zu üben, in den engen Grenzen, die der Repressionsapparat des Assad-Clans gezogen hatte. Muslimische Intellektuelle gab es kaum in Syrien; das Regime hatte die meisten in den achtziger Jahren ermordet. In Mubaraks Ägypten wiederum wurden Islamisten zwar politisch unterdrückt, hatten aber freie Hand, die Gesellschaft zu islamisieren.

Drei Gentlemen, der Islam und die Vernunft

Ein Geplänkel unter Akademikern? Ein bisschen darf sich das deutsche Publikum an die Konjunktur des Begriffs „Aufklärung“ im Krieg der Worte um den Islam in Europa erinnert fühlen. Vor allem aber ist es ein Stück Ideengeschichte des Arabischen Frühlings, das Elizabeth Suzanne Kassab in ihrem Bericht über die Tanwir-Debatte kürzlich in Kassel referierte. Die in Bonn arbeitende libanesische Philosophin, die ein Standardwerk über „Contemporary Arab Thought“ verfasst hat, sprach bei dem Workshop „Unrechtserfahrungen und Übergangsgerechtigkeit. Deutsch-arabische Perspektiven“ über die Aufklärungsdebatte der neunziger Jahre. Im damaligen ägyptischen „Gentleman-Diskurs“ habe man die Panik der ägyptischen Gesellschaft vor Islamisierung ebenso verhandelt wie den Wunsch islamistischer Intellektueller, als solche anerkannt zu werden.

Kassab nennt drei Protagonisten der damaligen Debatte: Der Philosoph Mourad Wahba sowie der Literaturkritiker und langjährige Kulturfunktionär Gaber Asfour verteidigten einen starken Staat und das Militär als Agenten von Aufklärung, während der islamistische Gelehrte Muhammad Amara die Aufklärungstradition des Islam für sich sprechen ließ und die Rolle muslimischer Protagonisten in der „Nahda“ (Renaissance) betonte, der arabischen Modernisierungsbewegung des 19. Jahrhunderts.

Von Aufklärung reden und sie unterdrücken

Das Volk blieb in diesem Diskurs ausgesperrt. „Elitismus war immer ein großes Problem der Aufklärungsdebatte und der Besitzer der Vernunft“, sagt Kassab, „übrigens auch in Deutschland und Frankreich.“ Und im klassischen Islam. Schon im 11. Jahrhundert habe den Universalgelehrten Ibn Sina (Avicenna) die Frage umgetrieben, wie viel Wahrheit man dem Volk zumuten dürfe. Er kam zu dem Schluss, dass man es lieber nicht verwirren solle.

Spätestens 2011 hat sich die Bevölkerung in den nordafrikanischen Ländern ihr Recht auf Freiheit und Vernunft zurückgeholt. An ihrer Seite standen jene „neuen Intellektuellen“ (Kassab), die bereits die autoritäre Tendenz der Debatte der 90er Jahre attackiert hatten und prinzipiell jenes Hohepriestertum der Intellektuellen ablehnten, auf das die akademischen Höflinge der Macht so viel Wert legten. Dekonstrukteure des alten Tanwir-Diskurses wie die ägyptische Soziologin Mona Abaza, der Theologe Nasr Hamid Abu Zayd oder der Historiker Sherif Younis klagen einen Staat an, der sich aufklärerisch gibt, aber sein Vernunftpathos unglaubwürdig macht, weil er freie Meinungsäußerungen de facto unterdrückt. Für den Islamismus gilt aus ihrer Sicht Gleiches. Vernunft dürfe nicht als abstraktes Konzept gefeiert werden, so Younis, sie müsse praktiziert werden.

Es ist wieder gefährlich, für Vernunft zu sein

Mit der Praxis ist es inzwischen fast überall vorbei. Über Aufklärung zu reden, sei heute nur in Marokko und Tunesien möglich, sagt Sarhan Dhouib, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel, der die Tagung organisiert hatte. Dhouib sagt von sich, dass er in Deutschland „im selbst gewählten Exil“ lebt. Mit seinem vom DAAD getragenen Projekt „Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur“ möchte er ein anderes Bild der arabischen Welt zeichnen, „jenseits des inflationären Redens über Islamismus“. Dhouib will die Menschenrechts- und Rationalitätsdebatte sowie die umfassende Selbst- und Kulturkritik aus der gesamten Region in Europa bekannter machen. Doch die alten und neuen arabischen Despoten setzen dem Grenzen. Einem ägyptischen Kollegen wurde von seinem Rektor bedeutet, die Teilnahme an der Kasseler Tagung sei nicht ratsam. Für Vernunft zu plädieren, ist wieder gefährlich geworden.

Auch in Tunesien, dem Mutterland des Arabischen Frühlings und dem einzigen Staat, in dem es keinen Rollback gab, sind die Wunden nicht verheilt. Das Land muss das Erbe von fünf Jahrzehnten Diktatur unter Bourguiba und Ben Ali antreten, von politischer Entrechtung, Unterdrückung, Zensur und der Allgegenwart der Folter. Über diese womöglich schrecklichste Unrechtserfahrung sprach in Kassel die Foucault-Schülerin und Philosophieprofessorin Zeineb Ben-Said Cherni. Als junge Gymnasiallehrerin war sie in der oppositionellen sozialistischen Gruppe Perspectives aktiv, wurde 1973 verhaftet und im Gefängnistrakt des Innenministeriums schwer gefoltert. Ihr Ehemann saß in der Nachbarzelle. Noch über 40 Jahre später droht ihr die Stimme zu versagen, als sie davon erzählt. Die Feministin Cherni ist eine von vielen betroffenen Frauen, aber eine der wenigen, die darüber sprechen – für Frauen ist die Folter noch mehr Tabuthema als für Männer.

Erst gefoltert, dann isoliert

Überhaupt wird „Die schwarze Erinnerung“, so der Titel einer Dokumentation über drei linke Aktivisten und Überlebende der Folter, nur langsam möglich im Tunesien des Übergangs. So hat die Stiftung des Historikers Abdeljelil Temimi 500 Zeugenaussagen und 1500 Interviews mit Opfern aufgezeichnet. Es traf Linke, Nationalisten und Islamisten, in der Spätphase des Regimes auch Kriminelle. Ihr Leiden endete nicht mit der Entlassung, danach kam es oft zur totalen sozialen Isolierung, mit Berufsverbot und dem Rückzug von Freunden und selbst engen Verwandten, die man nicht in Gefahr bringen wollte. „Das war das Schlimmste“, sagt Zeineb Cherni. „Die Gesellschaft als Gefängnis, ausgeschlossen zu sein, ständig kontrolliert, in den Fängen einer Krake. Alle, die man traf, landeten in den Polizeiakten.“

Das Reden hat begonnen, aber es gibt keine Statistiken und keine Zahlen über die Menschen, die bis 2011 Opfer des Regimes wurden. Und noch keine juristische Aufarbeitung. Was dringend nötig wäre, denn in Tunesien wird auch nach der Revolution noch gefoltert, betonen mehrere Teilnehmer der Tagung. Und es wird relativiert: Die "schreckliche Erfahrung der Kollegin" Cherni, kommentierte der Historiker und Dekan der Philologischen Fakultät in Tunis, Habib Kazdahgli, sei „nur ein Teil der Geschichte“.

Am Ende des Kasseler Workshops ist klar, dass das Denken in den postrevolutionären wie den restaurativen Gesellschaften Nordafrikas nicht im Philosophenturm stattfindet. Sondern mitten im Krieg - was kürzlich selbst in Tunesien der Anschlag von Sousse mit fast 40 ermordeten Touristen gezeigt hat. Denken geschehe in diesem Teil der Welt unmittelbar in der Aktion, sagt Elizabeth Suzanne Kassab. Zeineb Cherni schöpft daraus sogar so etwas wie intellektuelle Energie: „Die Revolution war ein Fest. Jetzt werde ich nicht mehr aufhören, mich zu engagieren.“

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