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Kultur: Nach der US-Wahl: Der Aufstand der Provinz

Fünf Wochen nach dem Schlusspfiff stand das Ergebnis des Jahrhundert-Endspiels um das Weiße Haus endlich fest - dank eines Schiedspruchs von durchaus parteiischen Unparteiischen, die dem (bei korrekter Zählung) wahrscheinlichen Verlierer den Sieg zuspielten. Amerika hat nun einen Präsidenten, der seinen Anspruch auf das höchste Amt von Anfang an mit der Behauptung begründete, es sei "illegal", die Stimmen in Florida per Hand nachzuzählen - ein starker Satz aus einem Mutterland der westlichen Demokratien.

Fünf Wochen nach dem Schlusspfiff stand das Ergebnis des Jahrhundert-Endspiels um das Weiße Haus endlich fest - dank eines Schiedspruchs von durchaus parteiischen Unparteiischen, die dem (bei korrekter Zählung) wahrscheinlichen Verlierer den Sieg zuspielten. Amerika hat nun einen Präsidenten, der seinen Anspruch auf das höchste Amt von Anfang an mit der Behauptung begründete, es sei "illegal", die Stimmen in Florida per Hand nachzuzählen - ein starker Satz aus einem Mutterland der westlichen Demokratien. Aber ein Anlass zur großen Wehklage für die unterlegene Mannschaft ist die Entscheidung nicht. Denn auch wenn alle sechs Millionen Stimmen in Florida nachgezählt worden wären, es wäre nur eine dünne Mehrheit für das Gore-Team herausgekommen.

Die Inbrunst, mit der sich beide Kandidaten seit der Wahlnacht mit ihrer Anwartschaft auf den Wahlsieg auf "den Willen des Volkes" beriefen, war zum Lachen. Mathematisch gesprochen liegt die maschinell ausgezählte Siegerquote von Bush in Florida (537 Stimmen) weit unter der statistischen Fehlerquote; die Aussicht, mit einer solchen Mehrheit Präsident der USA zu werden, ist tausendmal kleiner als die, vom Blitz getroffen zu werden. Die schlichte Wahrheit ist: Das Wahlergebnis ist so präzis gespalten, dass es einen klaren Willen des amerikanischen Volkes nicht erkennen lässt.

Bleibt das Rätsel, was die Amerikaner dazu brachte, den regierenden Demokraten angesichts eines dauerhaften Wirtschaftswachstums und einer nie erlebten Machtentfaltung das Mandat zu entziehen. Waren es schierer Übermut einer Wohlstandsgesellschaft, die keine großen Sorgen und deswegen keine Themen hat?

Wer die beiden Kandidaten bei den presidential debates beobachtete, konnte tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass sie nicht nur derselben Partei, sondern derselben Fraktion ein- und derselben Partei angehörten. Manche Beobachter äußerten denn auch den Verdacht, dass sich die Wähler zwischen Bush und Gore nach etwa den Kriterien entschieden, nach denen die Produzenten einer Talkshow den nächsten Gast aussuchen: Wer hat die angenehmere Körpersprache und das gewinnendere Lächeln. Viele Spalten wurden vollgeschrieben mit Kommentaren über den "Versöhner" Bush und seine berühmte Fähigkeit zum "touching" (das überraschende Berühren eines politischen Gegners an Schulter oder Arm), andererseits über Gores Mienenspiel und seine Unart, im Gespräch den körperlichen Schamabstand zu verletzen; über George W. Bushs erotisches Tremolo beim Labiallaut, wenn er vom "Rule of Law" schwärmt, über die nervtötend langsame Sprechweise Al Gores, der seinen Zuhörern das Gefühl vermittelte, Englisch sei eigentlich ihre Zweitsprache. Weltreiche zerbrechen in der Regel nicht an mächtigen äußeren Feinden, sondern daran, dass sie keine haben.

Der Wille zur Macht

Probierlust und Langeweile mögen bei der fantastisch symmetrischen Wahlentscheidung in den USA mitgewirkt haben; sie erklären nicht die Bitterkeit und den Hass, mit der in den letzten fünf Wochen um den Sieg gerangelt wurde. Es wird sich rasch herausstellen, dass die scheinbare Verwechselbarkeit zwischen den Kandidaten - Gush und Bore wurden sie genannt - täuschte. Die rabiate Entschlossenheit, mit der Bush und seine Männer seit der Wahlnacht ihren dünnen Maschinensieg zum "Willen des Volkes" erklärten, zeigt nicht nur den Machtwillen einer konservativen Elite, sondern eine Spaltung der ganzen Gesellschaft.

Tatsächlich fand in den Wochen seit der Wahlnacht eine Art nachholender Wahlkampf stand, in dem plötzlich Licht auf einige der bisher vermiedenen Themen fiel: zum Beispiel auf die Bürgerrechte der Schwarzen und anderer Minoritäten, deren Stimmen zu Tausenden aus den Wahllregistern flogen, für ungültig erklärt bzw. nicht gezählt wurden oder auf andere Art "verloren" gingen. In den USA ist so etwas wie ein Kulturkampf im Gange, es tobt ein amerikanischer Streit um die "Leitkultur", der sich mit der Pflicht zum Lächeln und zum Common Sense nicht mehr zügeln lässt. Wer in der Wahlnacht die Einfärbungen der Staaten auf der amerikanischen Landkarte verfolgte - rot stand für den Kandidaten Bush, blau für Gore - konnte die Lager vor sich sehen. Blau flimmerten fast nur die städtereichen Küstenstaaten an den beiden Ozeanen, die meisten der riesigen ländlichen Flächenstaaten zwischen ihnen bekannten sich als rot. Hätte man nicht die Zahl der Wähler sondern der gewonnenen Quadratkilometer zum Maßstab genommen, George W. Bush hätte zehnfach gewonnen.

Bei der näheren Bestimmung der Frontlinien ist Vorsicht angebracht. Alte Orientierungen wie "arm gegen reich", "Arbeit versus Kapital", "Deregulierung gegen staatliche Bevormundung" greifen nicht. In vieler Hinsicht haben sich Bill Clinton und sein Vize Al Gore als die entschlosseneren Modernisierer erwiesen. Einen genaueren Aufschluss gewähren die nun vorliegenden Wahlanalysen: Danach war Gore der Kandidat der Afro-Amerikaner (90 Prozent), der jüdischen Bevölkerung (79 Prozent) der Hispanics (67 Prozent) und der Frauen, vor allem aber der Großstädter: Er gewann 71 Prozent der Stimmen in Städten mit mehr als 500 000 Einwohnern. Bush hingegen brachte die Mehrzahl der männlichen weißen Bevölkerung hinter sich - in den Staaten der früheren Konföderation sogar fast 80 Prozent der weißen Männer.

Einen ersten Hinweis auf die Leidenschaften, die in diesem Kulturkampf wirken, erhielt ich einige Wochen vor der Wahl. In einer Tischgesellschaft in Washington ließ ich, eher versuchsweise und um die Diskussion abzukürzen, den Satz fallen: "Ich mag Clinton. Ich halte ihn für einen großen Präsidenten." Vernehmliches Schweigen machte sich breit. Es war, als senke sich ein großes unsichtbares Messer von der Zimmerdecke nieder und teile die Gesellschaft in zwei Teile. Schließlich ergriff ein Freund, ein kluger, sonst zu jedem Scherz aufgelegter Geschäftsmann aus Missouri das Wort. Wie ich so etwas sagen könne, fragte er. Clinton habe dem amerikanischen Volk kaltblütig ins Gesicht gelogen. Den Einwand, dass das Geständnis eines Seitensprungs nur die Ehefrau des Präsidenten angehe, nicht die Öffentlichkeit, machte die Sache nur schlimmer. Wissen Sie eigentlich, fragte eine Rechtsanwältin aus New Mexiko, dass er sich einen hat blasen lassen, während er mit dem Telefon in der Hand unsere Soldaten nach Bosnien schickte? Die Frage, ob sie Zeugin dieser bemerkenswerten Szene gewesen sei, ging im Getümmel unter. Aber als dann eine Europäerin am anderen Ende des Tisches sich Gehör verschaffte mit dem Trotzruf: Ein großer Mann, wenn er beides gleichzeitig fertigbringt! war es aus. Man brachte den Abend mühselig zu Ende.

Man vergisst in Europa, dass kein Land der westlichen Welt im Alltag so stark von puritanisch-religiösen Traditionen geprägt ist wie die USA. Selbst in Washington gehen fast alle meine Bekannten, ob liberal oder republikanisch gesinnt, sonntags in die Kirche. Und man unterschätzt den anhaltenden Hass, den Bill Clinton mit seinen Eskapaden im "oral office" im moralisch-intoleranten Teil der USA ausgelöst hat. Dort kennt man zwar die Sünde, nicht aber das Verzeihen. Bushs Versprechen "to restore the dignity and the honor to the office" (die Ehre des Präsidentenamtes wiederherzustellen) sprach diesem Teil Amerikas aus dem Herzen.

Selbstverständlich gruppieren sich um diesen aktuellen Kern des republikanischen Abscheus noch sehr viel ältere und robustere Ressentiments. Der Name Clinton steht in den Augen der republikanischen Kulturrevolutionäre für alle Laster der korrupten Metropole: für die "Babykillers", für Schwule und für Lesben, für den Vietnamprotest, für laxe Sexualgewohnheiten und für das multikulturelle Amerika, dessen Vertretern Clinton in seiner Administration mehr Posten verschafft hat als jeder Präsident zuvor.

Natürlich steht der Name Clinton auch für den nie verwundenen Tort, dass ein namenloser Lümmel aus Arkansas dem Vater von George W. Bush im Jahre 1992 den Thron gestohlen hat. Aus der Art, in der Bush und seine Männer sich bereits in der Wahlnacht zu Siegern erklärten und sich keinen Rückweg für eine Niederlage offenließen, sprach eine putschbereite Entschlossenheit. Sie gebärdeten sich, als wäre jeder Tag der acht Clinton-Jahre des Teufels gewesen und als würden sie kein Mittel scheuen, "Gods own country" von diesem Fluch zu erlösen. Tatsächlich zeigen die jetzt abgeschlossenen Nominierungen, dass die Bush-Männer gar nicht daran denken, nach ihrem "Sieg" dem Amerika der Demokraten die Hand zu reichen - nicht einmal eine kleine Geste brachten sie über sich. Bei den zukünftigen Ministern handelt es sich überwiegend um die konservativen Freunde von Vater Bush, die für eine Politik gegen die Abtreibung, gegen Umweltschutz und für das nationale Raketenprogramm stehen.

Zu der wiedererwachten Sehnsucht nach Tradition und Traditionsbildung passt es, dass die Amerikaner nach dem Nobody aus Arkansas einen Prinzen aus einem politischen Adelsgeschlecht zum ersten Mann gekoren haben. Bei der Polit-Serie, die die Welt in den letzten Monaten und Wochen über die Fernsehschirme laufen sah, handelt es sich ja nicht zuletzt um ein modernes Königs- und Familiendrama, bei dem es, wie es sportlich heißt, "um den wichtigsten Job der Welt" geht. Shakespeare hätte seine Freude daran gehabt. Da ist der Präsidentenvater George Bush, der acht Jahre nach dem Thronverlust seinen Erstgeborenen in die Schlacht um das Weiße Haus schickt. Offenbar war der alte Bush nie damit zufrieden, dass er seine beiden Söhne George W. und "Jeb" Bush immerhin als Gouverneure in Texas und in Florida regieren sah.

Eine unterschätzte Hauptrolle in dem Drama spielt die ehrgeizige Mutter, Barbara Bush, die wohl ursprünglich den nachgeborenen, von den meisten Beobachtern als fähiger und intelligenter eingeschätzten Jeb für die Rückeroberung des Weißen Hauses vorgesehen hatte. Aber der fleißige Jeb verlor bei seiner ersten Kandidatur in Florida und war fortan - auch nach seinem erfolgreichen zweiten Versuch - mit dem Makel des "loosers" behaftet.

Blieb der ehemals trinkende große Bruder. Eigentlich das schwarze und dennoch das geniale Schaf der Familie: George W. schaffte Texas im ersten Anlauf - also ein Siegertyp. Welche Monologe der Jüngere gesprochen hat, als er den Älteren siegen sah, müssen wir Shakespare überlassen. Da ist weiter die Staatssekretärin Catherine Harris mit dem fantastischen Makeup, der man eine Affäre mit Jeb nachsagt. Bis eben noch hatte sie als "chairman" die Bush-Kampagne in Florida mitangeführt und hatte nun, in ihrer Eigenschaft als Staatssekretärin, zu entscheiden, wer die Wahl in Florida und damit in den USA gewonnen hatte. Da ist schließlich der Neffe John Ellis, Sohn der Schwester des alten Bush. Er saß in der Wahlnacht im Wahl-Entscheidungsteam von Fox-News und sorgte dafür, dass um zwei Uhr morgens der Wahlsieg der Familie in Florida verkündet wurde. "Da waren wir drei", erzählte John Ellis der Reporterin Jane Mayer vom "New Yorker", "ständig hin und her am Telefon: ich der mit den Zahlen, der andere der Gouverneur in Florida, der dritte der gewählte Präsident. Now that was cool!"

Die Stallwärme alter Tugenden

Dass George W. Bush, der in 15 Minuten über die Vollstreckung eines Todesurteils entscheidet und für die Hälfte aller Exekutionen in den USA verantwortlich ist, selber nur ein reuiges Kind der 68er-Generation ist, dass er als drunk driver festgenommen und am Kokain "gerochen" hat, mag komisch sein; es tut dem Kreuzzug gegen das städtische Amerika, den er anführt, keinen Abbruch. In diesem Kampf sind stärkere Kräfte am Werk als der Ehrgeiz eines Präsidentenvaters, der sich durch seinen Sohn eine gleichsam posthume zweite Amtszeit verschafft. Bei seinem "Victory-Speech" wirkte der junge Bush denn auch wie eine Geisel. Newt Gingrich und seine "konservative Revolution" waren gescheitert; der junge Bush - für seine Umarmungen berühmt - setzt sie in verträglicheren Dosen fort.

Dabei bedient er sich eines alten Musters konservativer Ideologien: die Weltraumkälte, die dank der Entfesselung der Märkte auch in den USA zu spüren ist, lastet er dem Moralverfall der Großstadt an. Den Ängsten vor der Globalisierung und vor "Corporate America", dessen geschäftliche Interessen Bush und seine Männer ohne Vorbehalt vertreten, setzt er die Stallwärme der alten Tugenden entgegen: Familiensinn, puritanische Sexualmoral und die Werte einer Männerwelt, die jede Einschränkung ihrer Waffenrechte als eine Art Kastration erlebt. Der Nachhall dieses kulturellen Aufruhrs gegen die Moderne wird in Europa mächtig nachwirken. Um Irrtümern vorzubeugen: Rückwärts gewandte Heilsversprechen verstehen sich meist bestens mit der technologischen Avantgarde.

Peter Schneider

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