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Eine Grande Dame hält Hof. Margaret Atwood bei der Pressekonferenz zu den "Zeuginnen" in London.

© Tolga Akmen/AFP

Nachfolgeroman zu „Der Report der Magd“: Margaret Atwoods neues Buch weckt hohe Erwartungen – und enttäuscht

Die Schriftstellerin Margaret Atwood setzt mit „Die Zeuginnen“ ihren dystopischen Klassiker „Der Report der Magd“ fort. Der Hype ist gewaltig.

In unserer an Überbietungsgesten nicht gerade armen Zeit ist man es gewohnt, dass sich die Superlative vor allem dort überschlagen, wo das Getöse vom Kleingedruckten ablenken soll. Margaret Atwood ist nun mit „Die Zeuginnen“ ein solcher Aufmerksamkeitscoup gelungen. Weltweit gefeiert als Ikone des politischen Aktivismus, legt die Grande Dame des literarischen Feminismus, die in diesem Jahr ihren 80. Geburtstag feiert, die langerwartete Fortsetzung ihres dystopischen Klassikers „Report der Magd“ vor.

Schon vor Erscheinen landete der neue Roman auf der Shortlist des Booker-Preises, ein globaler Erscheinungstermin wurde festgesetzt, und in weltweit mehr als 1300 Kinos fand in der Nacht auf Dienstag die Live-Übertragung der Premierenfeier aus dem Londoner National Theatre statt.

Den „Report der Magd“ hatte Atwood vor dreieinhalb Jahrzehnten im denkwürdigen Jahr 1984 in Westberlin begonnen: vis-à-vis der Berliner Mauer und der repressiven Gesellschaften im Osten.

Mit George Orwells Vision eines totalen Überwachungsstaates im Hinterkopf erfand sie den totalitären Staat Gilead, eine puritanisch-misogyne Theokratie auf dem Gebiet der ehemaligen USA, ein Faschismus-Echo, das aus verschiedenen Elementen historischer Diktaturen kompiliert ist und eine ganze Generation von LeserInnen verstört und geprägt hat.

Der Hype setzte allerdings erst mit der von 2017 an ausgestrahlten Serie „The Handmaid’s Tale“ ein, die sich über die Jahre immer weiter von ihrer Vorlage entfernte, vermehrt eigene Handlungsstränge etablierte und die Abscheulichkeiten dieser frauenfeindlichen Hölle breitenwirksam und vor allem derart genüsslich ausbreitet, dass viele neu gewonnene Atwoods-Fans die Fortsetzung als Buch kaum erwarten konnten.

Jetzt, ein Dritteljahrhundert später, sind „Die Zeuginnen“ da und knüpfen in einem bewunderungswürdigen Balanceakt sowohl an den Vorgänger als auch an die Serie an. Wie eng Atwood mit deren Team zusammengearbeitet haben muss, wird einem beim Lesen durch die unzähligen Déjà-vus bewusst, wenn man nicht mehr weiß, was man wo gelesen oder gesehen oder sich über die Jahre selbst zusammengereimt hat.

Insofern ist Atwood durchaus eine Art neues Genre gelungen, das das episodisch-serielle Erzählen nicht nur mit angestoßen hat, sondern auch wieder einzufangen weiß.

Verseuchte Umwelt

Wir sind zurück in Gilead, 15 Jahre nach dem offenen Ende des „Reports der Magd“, und noch immer führt die verseuchte Umwelt zu Unfruchtbarkeit der meisten Frauen. Noch immer gibt es jenes „rassenhygienische“ System zur Erhaltung der Elite, das nicht von ungefähr an das Lebensborn-Projekt der SS gemahnt und dem alle fruchtbaren Frauen, die Mägde, als „wandelnde Gebärmütter“ zu dienen haben.

Und noch immer gibt es Säuberungswellen und öffentliche Prozesse, die an die Moskauer Schauprozesse erinnern und denen nun nicht mehr nur diejenigen zum Opfer fallen, die keinen „Weißennachweis“ erbringen können oder sich als „Geschlechtsverräter“ (Homosexuelle) schuldig gemacht haben, sondern zunehmend auch die Mächtigen selbst.

Denn inzwischen wird nicht mehr nur vermeintlich unwertes Leben, vernichtet, es lichten sich auch die Reihen der Eliten. Kommandanten sind in Gefahr, und auch die „Tanten“, die grausamen Vollstreckerinnen der repressiven Indoktrination der Mägde. So wie die Revolution ihre Kinder frisst, frisst dieser religiöse Fundamentalismus irgendwann auch sich selbst.

Benutzbare Körper

Die wertvollen, also gebärfähigen Frauen werden in Gilead weiterhin zu Fortpflanzungszwecken missbraucht, sie sind „benutzbare Körper“, die für die rituelle Befruchtungszeremonie auf- und nach Gebrauch wieder zugeklappt werden. Sie sind entweder Hure oder Heilige – je nachdem, ob sie ihrer Bestimmung gerecht werden und Nachkommen produzieren. Sie bleiben in der Regel namenlos, denn das, was als ihr Name durchgeht (Desfred), ist nur ein Besitzvermerk, der die Zugehörigkeit zu einem Kommandanten (Fred) anzeigt.

War „Der Report der Magd“ noch eine Antwort auf den antifeministischen Backlash der 1980er Jahre, so verstehen sich „Die Zeuginnen“, wie Atwood in ihrer Danksagung schreibt, als Antwort auf die vielen Fragen, die sie in all den Jahren zu den Gründen des Untergangs von Gilead erreicht haben. Denn dass Gilead untergegangen war, wissen wir durch die Protokolle des „Zwölften Symposions über Gileadstudien“, mit denen der „Report“ endet. Die Protokolle eines weiteren Symposions, das nur wenig später stattfand, bilden nun den narrativen Rahmen für „Die Zeuginnen“, in dem die Zeugenberichte von drei Frauen miteinander verwoben werden.

Menschenverachtende Ideologie

Die erste Stimme gehört Lydia, die wir im „Report“ als drakonisch strafende Tante kennengelernt haben und die hier durch ihr Tagebuch mehr Tiefe verliehen bekommt. Ursprünglich Familienrichterin in der Zeit vor Gilead, hat Tante Lydia nach ihrer Inhaftierung doch noch Karriere gemacht, statt in den Kolonien zu landen, wo die Frauen „aufgebraucht“ werden und nur noch kurze Zeit zu leben haben.

Sie ist keine waschechte Ideologin, sondern eine Opportunistin mit unbedingtem Lebenswillen, die menschenverachtende Ideologie des Staates dient ihr bloß als Instrument ohne auch ihr Rückgrat zu sein. Ihr Bericht wird immer wieder unterbrochen von den „Zeugenaussagen“ zweier junger Frauen.

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Die eine, Agnes Jenima, ist in Gilead aufgewachsen, die andere, Daisy, im einigermaßen sicheren Kanada. Die anfangs recht unbedarfte Agnes sorgt sich sogar um das Bild, das die Nachwelt von Gilead einmal haben wird und stellt in Frage, ob nicht auch Gutes verlorengehen wird.

An ihr zeigt sich die Wirkung staatlicher Indoktrination par excellence. Daisy, die uns als störrischer, auf der anderen Seite der Grenze aufgewachsener Teenager begegnet, der gegen das Verbot seiner Eltern auf Demonstrationen gehen und politisch aktiv werden will, erweist sich wiederum auch nicht als frei von ideologischen Schablonen.

Verteidigungsschrift und Selbstdemontage

Was beide miteinander verbindet, ist ihre je eigene Suche nach der Wahrheit darüber, woher sie kommen, wer sie sind und vor allem – wer sie sein wollen. Eine Suche, die auch Tante Lydia in ihren Aufzeichnungen umtreibt, die beständig zwischen Verteidigungsschrift und Selbstdemontage schwanken. Atwood verschränkt dabei nicht nur die Stimmen dieser drei Frauen miteinander, sondern verknüpft auch ihre jeweiligen Handlungsstränge so, dass man sich plötzlich in einem Spionagethriller wiederfindet.

Dabei wird einem auch bewusst, dass man das Ruhige, Gesetzte im „Report der Magd“ bald schmerzlich vermisst. Denn leider wirkt der Ton der jungen Frauen oft unbeholfen und bemüht, während Tante Lydias enervierende Geschwätzigkeit ebenso überhand nimmt wie ihre ständige Ansprache des Lesers.

Hölzerne Figuren

Hinzu kommt, dass sich Atwood nur selten die Zeit gegönnt zu haben scheint, Szenen durch prägnantere Beschreibungen mehr Tiefenschärfe zu verleihen. So erfährt beispielsweise eine 16-Jährige von der Ermordung ihrer Eltern durch eine Autobombe, ist kurz sprachlos und denkt eine Zeile später: „Welcher Irre hätte sie umbringen wollen? Ich kannte niemanden, der normaler war als die beiden.“

Diese im ganzen Roman anzutreffende Hölzernheit der Figuren wirkt, als diene der Text ohnehin nur noch der Ansammlung von Szenen für eine weitere Verfilmung.

[Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Roman. Aus dem Englischen von Monika Baark. Berlin Verlag, München/Berlin 2019. 576 Seiten, 25 €.]

Die drei Erzählstimmen sind zudem so disharmonisch komponiert. Nicht viel ist geblieben von dem geistreich-sarkastischen Esprit, der den „Report der Magd“ so auszeichnet. Was dieser an literarischen Qualitäten zu bieten und durch sein offenes Ende gewonnen hat, verspielen „Die Zeuginnen“ leichtfertig mit einem melodramatisch kitschigen Schlussakkord.

Wie sehr der Roman aber auch literarisch gescheitert sein mag, das Echo seiner medialen Inszenierung wird uns noch eine ohrenbetäubende Weile nachklingen.

Bastian Reinert

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