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Den Schrecken bannen. Iri und Toshi Maruki schufen ab 1950 die 15-teilige Serie der „Hiroshima-Tafeln“, hier Tafel II: „Feuer“.

© Maruki Gallery for The Hiroshima Panels Foundation

Nachkriegskunst in München: Die verstrahlte Moderne

Im Zeichen der Katastrophe: Die Ausstellung „Postwar“ im Münchner Haus der Kunst zeigt die Weltkunst der ersten Nachkriegsjahrzehnte, von 1945 bis 1965.

Es gab 1945 keine Stunde null. Die Behauptung eines absoluten Neuanfangs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellt vielmehr den Wunsch dar, die Last der Vergangenheit abzuwerfen und befreit neu zu beginnen. Längst sind die Kontinuitätslinien aufgedeckt, die die Nachkriegs- mit der Vorkriegszeit verbinden. Auch in der Kultur, die sich außerhalb der Geschichte zu stellen hoffte.

Und doch gab es eine Stunde null. Es gab sie in der Philosophie in Gestalt des Existenzialismus der Nachkriegsjahre, wirkmächtig bis zu Beckett oder Bacon.

Francis Bacon ist mit einem erschütternden Gemälde in der Ausstellung „Postwar: Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945–1965“ vertreten, mit der das Münchner Haus der Kunst die Hervorbringungen der beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte in den Blick nimmt. Dass dieser Blick sich nicht auf Europa und Nordamerika beschränkt, versteht sich angesichts des Vordenkers dieser Ausstellung von selbst, dem Direktor des Hauses Okwui Enwezor. Der 53-Jährige hat seit „seiner“ Documenta 11 im Jahr 2002 einen dezidiert nicht-westlichen Blick geschult. Er selbst kam mit 19 Jahren von Nigeria in die USA und lebt seither im Westen. Die Ambivalenz vermeintlich fester Standpunkte ist ihm schon biografisch eigen.

Das Ende der Herrschaft von europäischen Kolonialmächten

Ausdrücklich wird das Jahr 1945 als Ausgangs- und „Wendepunkt“ betont. „Die katastrophalen Zustände in der Folge des Krieges, der Städte und Länder zerstört, mehrere Millionen Menschen getötet und eine massive Flüchtlingskrise mit Millionen staatenloser Personen nach sich gezogen hatte, fielen zusammen mit den ersten Atombombenabwürfen und der Konfrontation mit dem Grauen des Holocaust“, heißt es im Positionspapier zu der Schau. „Das moralische und technologische Erbe von Hiroshima und Auschwitz wurde zum Symbol für die Krise des Humanismus.“

Das ist etwas holprig formuliert, trifft aber zu. Das Jahr 1945, da die Zäune der Vernichtungslager niedergerissen wurden und wenig später Hiroshima und Nagasaki im atomaren Feuersturm verbrannten, bedeutet eine fundamentale Wende. USA und Sowjetunion als Sieger teilten die Welt in Einflusssphären auf. Das mag keine Stunde null im Sinne eines völligen Neubeginns gewesen sein, doch die weltpolitischen Koordinaten wurden gründlich verschoben, für mindestens ein halbes Jahrhundert. Faktisch kam die Herrschaft der europäischen Kolonialmächte an ihr Ende, auch wenn sich die Befreiung der unterworfenen Länder noch gut anderthalb Jahrzehnte hinziehen sollte.

In dieser Perspektive ist es nur folgerichtig, dass Enwezor und seine Mitkuratoren Katy Siegel und Ulrich Wilmes die Ausstellung in den riesigen Sälen des einstigen Nazi-Kunsttempels mit Werken beginnen, die eben diesen historischen Bruch thematisieren. Das ist weniger hinsichtlich des Holocausts der Fall als mit Blick auf die Atombombe. Sie lässt sich in das eine, einprägsame Bild des aufsteigenden Rauchpilzes fassen. Die Verwüstungen und die Verstümmelungen der Menschen, die abzubilden die USA sofort nach Abwurf verboten hatten, konnten demgegenüber nicht bildkräftig werden.

Über 300 Werke von 200 Künstlern aus 65 Ländern

Um so wichtiger, dass die Ausstellung mit den Fotografien von Yosuke Yamahata, aufgenommen am Tag nach der Zerstörung von Nagasaki, und mit Teilen des eindrucksvollen Gemäldezyklus’ von Iri und Toshi Maruki aus dem Jahr 1950 den Schock erahnen lässt, den die sekundenschnelle Totalzerstörung im japanischen Bewusstsein hervorrief. Von dort drang sie in die Welt. Als Widerspiegelung läuft auf einem Monitor der Film von Alain Resnais, „Hiroshima mon amour“ von 1959, der in der Unmöglichkeit der Liebe die geistige und seelische Erschütterung durch die Atombombe erkennen lässt.

Im Zusammenhang der Ur-Erfahrung des Jahres 1945 ist auch „Bomber“ von 1963 zu sehen, Gerhard Richters frühes Gemälde nach einer Fotografie. Die Distanz, die Richter mit dem Malen nach Fotografien betont, ohne das gegenständliche Motiv aufzugeben, zeigt den Zwiespalt auf, in dem die Kunst sich seither befindet. Sie kommt nicht an der Wirklichkeit vorbei, aber sie kann sie nicht mehr schlicht reproduzieren.

Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts beeinflussen auch die Kunst. Roy Lichtenstein, „Atomexplosion“, 1965.
Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts beeinflussen auch die Kunst. Roy Lichtenstein, „Atomexplosion“, 1965.

© The Benjamin J. Tillar Memorial Trust /

Darauf hätten die Kuratoren eingehen sollen, zumal immer wieder im Parcours durch acht anspruchsvolle Themen und ausgestattet mit über 300 Werken von 200 Künstlern aus 65 Ländern auf den Zwiespalt hingewiesen wird, etwa in den Endlos-Siebdrucken eines Andy Warhol oder den Bild- und Materialcollagen von Robert Rauschenberg. Aber die Ausstellung will ja diesen ausgetretenen, westlich-selbstreflexiven Pfad verlassen und „spürt künstlerischen Entwicklungen (...) nach, indem sie den Küstenlinien der zwei großen Ozeane folgt: durch Europa, Asien, den pazifischen Raum, Afrika, den Mittelmeerraum, Nord- und Südamerika“. Auf dieser tour d’horizon untersucht die Ausstellung „verschiedene Konzepte der künstlerischen Moderne wie Abstraktion, Realismus, Gegenständlichkeit und Figuration ...“

Das ist ein riesengroßer Anspruch und einer, an dem die Ausstellung nur scheitern kann. Zu viel ist zu viel. Die Beschränkung auf die unmittelbare Nachkriegszeit und die Schockwellen, die sie in die Kunst hinein ausgesandt hat, wäre ein gangbarer Weg gewesen. Dafür steht das erste Kapitel. Aber dann soll die in bewusster Abwendung von Politik und Gesellschaft entstandene und die Autonomie des Künstlers feiernde Abstraktion in Gegenüberstellung einerseits vorgeführt, andererseits durch die Propagandabilder des Sozialistischen Realismus aber auch konterkariert werden.

Anti-hierarchische Betrachtungsweise

Übrigens: Diese Gegenüberstellung spielt eine andere aktuelle Ausstellung zur Nachkriegszeit gezielter aus.  „Kunst in Europa 1945–1968“, nach der Erstpräsentation in Brüssel derzeit im ZKM Karlsruhe zu sehen, konzentriert sich dabei auf Mittel- und Osteuropa, wo der Realismus eine ungebrochene, im Westen lange missachtete Tradition aufweist.

In München hat niemand das Kuratorentrio davor bewahrt, Kunstwerke als bloße Belegstücke an den Wänden aufzureihen oder in den Raum zu stellen. Es ist erstaunlich, welche Fülle von für sich genommen großartigen Arbeiten da zusammengekommen ist; und umso ärgerlicher, wenn sie an Stellwänden über Eck gehängt werden oder nur mit entschlossenem Kopfumwenden zu erspähen sind. Kann das Publikum – westlich konditioniert, wie es in der Mehrzahl ist – in diesem Gedränge die Eigenarten Indiens, Afrikas oder des Mittleren Ostens erfassen? Immerhin ist Südamerika so viel Raum gegeben, dass die ungegenständlichen, „konkreten“ Arbeiten der Brasilianerin Lygia Clark oder des Wahl-Mexikaners Mathias Goeritz sich eindrucksvoll gegen solche von Max Bill oder Ellsworth Kelly behaupten.

Enwezors anti-hierarchische Betrachtungsweise kommt am schönsten im Kapitel „Kosmopolitische Moderne“ zum Ausdruck. Statt die sattsam bekannte Abhängigkeit der Kunstakademien in der „Dritten Welt“ von Vorbildern in den westliche Metropolen bloßzustellen, spürt diese Abteilung der intellektuellen Migration in alle Himmelsrichtungen nach. Das schließt beispielsweise den Blick der New Yorker Abstrakten nach Japan ein und ebenso die japanische Gruppierung Gutai, die umgekehrt dem Informel Pariser Prägung nahesteht. Die islamische Kalligrafie bildet einen ganz eigenen Bereich, von dem das Frühwerk „Gebet“ von 1962 des zu diesem Zeitpunkt bereits in die USA ausgewanderten Siah Armajani einen Eindruck gibt.

Nicht immer klar, was die Ausstellung zeigen soll

Nicht alles lässt sich als „kosmopolitisch“ fassen und aufwerten. Dem steht gegenüber, was mit der Nationenbildung in den aus kolonialer Fremdherrschaft entlassenen Staaten zu erklären ist, aber doch kaum mehr als historisches Interesse beanspruchen kann. Auch das ist ein Bestandteil der Entwicklung hin zur Weltkunst, die das Münchner Haus vorführen will. Sie bietet Stoff genug für ein Dutzend Folgeveranstaltungen, und was an den Wänden keinen Platz fand, bündelt in schriftlicher Form ein 848 Seiten starkes Katalogmonster.

„Die Ausstellung will keine neue Landkarte abbilden“, schränkt Enwezor gegen Ende seines Einleitungs-Essays ein, „sie widmet sich vielmehr den Verknüpfungen. Und sie zeigt die Probleme auf, die den ungleichen Austausch zwischen dem Westen und dem Rest geformt haben.“ Es ist nicht immer klar, was die Ausstellung zeigen soll und was ihre Macher wollen. Vielleicht kann es nicht anders sein, wenn der Blick multiperspektivisch schweift. Die Schockwellen des Jahres 1945 sind ohnehin noch immer zu spüren.

München, Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1, bis 26. März. Katalog bei Prestel, 65 €, Kurzführer 10 €. – Umfangreiches Begleitprogramm: www.hausderkunst.de

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