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Der ungarische Literaturnobelpreisgewinner Imre Kertész, der im März 2016 starb.

© DPA/Georgios Kefalas

Nachlass von Imre Kertész: Schicksal eines Schicksallosen

Zwischen Berlin und Budapest ist ein stiller Kampf um das Erbe des ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész entbrannt. Ein Besuch an der Donau.

Von Gregor Dotzauer

Unter dem matschgrauen Budapester Februarhimmel wirkt die Villa Eisele in der Benczúr-Straße 46, wenige Schritte vom Heldenplatz entfernt, doppelt ramponiert. Die Art-Nouveau-Pracht, die ihr das Architektenpaar Guido Hoepfner und Géza Györgyi 1909 schenkte, ist dahin. Tiefe Schrunden laufen über die Fassade, und im wintertrüben Inneren raubt das Dunkelbraun der Holzvertäfelungen noch dem kleinsten Schnörkel seinen Schwung. Zuletzt haben die Insassen eines Altersheims die Grandeur der 1070 Quadratmeter heruntergewohnt. Nach Jahren des Leerstands soll das Geisterhaus nun aber wieder eine Zukunft haben. Die Gemeinnützige Stiftung für die Erforschung der Geschichte und der Gesellschaft Mittel- und Osteuropas hat sie im vergangenen Jahr für umgerechnet zwei Millionen Euro erworben und will darin das Imre-Kertész-Institut eröffnen.

Gábor Tallai, Programmdirektor des Terror Háza Múzeum in der benachbarten Andrássy út, führt voller Stolz durch die Villa. In zwei bis drei Jahren soll hier der Nachlass des im März 2016 mit 86 Jahren verstorbenen, ersten und einzigen ungarischen Literaturnobelpreisträgers in einer auf 30 Bände angelegten Ausgabe aufgearbeitet werden. Gastwissenschaftler, Stipendiaten und Veranstaltungsbesucher sollen es mit Leben füllen. Das Haus des Terrors, eine multimedial orchestrierte Gedenkstätte für die Opfer der faschistischen Pfeilkreuzler und diejenigen der kommunistischen Niederschlagung des Ungarn-Aufstands von 1956, wird zwar das Renommierprojekt der regierungsnahen Stiftung bleiben. Doch das Kertész- Institut stopft die kulturelle Lücke neben dem von ihr gleichfalls betriebenen Institut für habsburgische Geschichte, den Instituten des 20. und des 21. Jahrhunderts und demjenigen zur Erforschung des Kommunismus.

Widerstand gegen zwei Diktaturen

Imre Kertész, der erst die Deportation nach Auschwitz, Buchenwald und von dort in die Außenlager Zeitz und Wille überlebte und, zurück in Budapest, die bleierne Zeit des Erzstalinisten Mátyás Rákosi und dessen Nachfolger János Kádár erlebte, ist für die geschichtspolitischen Ziele der Stiftung eine ideale Symbolfigur. Als Jude hat er überdies den Vorzug, gegen den bis in die höchsten Kreise grassierenden Antisemitismus ins Feld geführt werden zu können.

Wie József Kardinal Mindszenty, der seinen deutschen Nachnamen Pehm aus Protest gegen die Pfeilkreuzler ablegte und 1949 in einem kommunistischen Schauprozess wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, bevor er nach 1956 Zuflucht in der Budapester US-Botschaft fand, steht Kertész für den Widerstand gegen beide Totalitarismen. Die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán legitimiert ihre nationalpopulistische Linie nicht zuletzt aus der Erfahrung zweier Diktaturen. Damit verbindet sich ein auch in Polen verbreiteter Opferdiskurs, der davon, dass es auch eine Vielzahl williger Kollaborateure gegeben haben muss, nichts wissen will.

In Berlin archiviert, in Budapest für eine kritische Ausgabe vorgesehen. Die erste Seite vom „Roman eines Schicksallosen“.
In Berlin archiviert, in Budapest für eine kritische Ausgabe vorgesehen. Die erste Seite vom „Roman eines Schicksallosen“.

© Akademie der Künste

Im Haus des Terrors wird dieser Diskurs vor allem im Hinblick auf die Sowjetherrschaft mit einer Überwältigungsästhetik inszeniert, die dem Werk von Imre Kertész fremd ist. Was er 1975 in seinem „Roman eines Schicksallosen“ aus der Perspektive eines 15-Jährigen fiktional zu fassen versuchte, war gerade die physische Alltäglichkeit, mit der sich undurchschaubare Regeln zum Ganzen eines Konzentrationslagers zusammensetzen. Und obwohl der Holocaust für ihn ein Zivilisationsbruch war, in dem sich die Rationalität des 20. Jahrhunderts vollendet, blieb er für ihn im Geschichtlichen angesiedelt. Die Fratze des Bösen, die manche darin sehen wollten, erschien ihm als ebenso sentimentaler Irrtum wie die Rührseligkeit von Steven Spielbergs Filmdrama „Schindlers Liste“. Kertész wollte sich mit aller intellektuellen Schärfe dem „Holocaust als Kultur“ stellen, wie er 1992 einen programmatischen Essay nannte.

Diese kleine Unverträglichkeit ist allerdings nichts gegen die große, die gerade zwischen Budapest und Berlin ausgetragen wird. Seit Magda Kertész am 30. August 2016 auf ihrem Sterbebett eine zweiseitige Schenkungsurkunde unterzeichnete, die der Stiftung sämtliche Nutzungsrechte am geistigen Nachlass ihres Mannes überlässt, fühlt sich die Akademie der Künste düpiert. 2012 erwarb sie für eine Summe im mittleren sechsstelligen Bereich den Vorlass des Schriftstellers. Mit dem Ankauf, erklärt Werner Heegewaldt, der Direktor des Archivs, sei man dem ausdrücklichen Wunsch von Kertész nachgekommen, seinen Manuskripten an dem Ort eine Obhut zu geben, an dem er die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht habe.

"Meine sämtlichen Manuskripte gehen in die Emigration"

Der ungarische Literaturnobelpreisgewinner Imre Kertész, der im März 2016 starb.
Der ungarische Literaturnobelpreisgewinner Imre Kertész, der im März 2016 starb.

© DPA/Georgios Kefalas

Hatte Kertész nicht in seinen unter dem Titel „Der Betrachter“ erschienenen Notizen im Jahr 2000 notiert: „Es ist beschlossen, meine sämtlichen Manuskripte gehen in die Emigration und suchen (oder finden?) damit eine neue Heimat für sich.“ 2001 nahm er, um seiner ungarischen Depression zu entfliehen, eine Arbeitswohnung an der Spree. Im Herbst 2002, kurz vor der Verleihung des Nobelpreises, berief ihn das Wissenschaftskolleg in Dahlem als Fellow. Anschließend bezog er eine Wohnung in der Meinekestraße, die er erst 2012, schwer parkinsonkrank, auf Drängen seiner in Berlin nie heimisch gewordenen Frau wieder zugunsten von Budapest aufgab.

Wie passt die Entschiedenheit dieser vielfach dokumentierten Haltung zur Budapester Vereinbarung, die besagt, dass die Schenkung dem mündlich geäußerten Willen des Schriftstellers entspreche? Ist sie womöglich die krasseste Ungereimtheit im Leben eines sonst unbeugsamen Mannes, der 2014 mit dem von Viktor Orbán im Jahr zuvor neu aufgelegten Sankt-Stephans-Orden die höchste Ehrung seines Landes annahm? Er billigte damit auch die unselige Tradition der ursprünglich habsburgischen Auszeichnung, die zuletzt 1944 unter dem antisemitischen Reichsverweser Miklós Horthy vergeben worden war. Endlich von einem Land umarmt zu werden, das ihn selbst nach dem Nobelpreis von links ignorierte und von rechts attackierte, muss ihm so geschmeichelt haben, dass er darüber vielleicht vergessen wollte, wem er diese Gunst verdankte. Vielleicht glaubte er auch, das Spiel nach seinen Regeln spielen zu können: Ihr könnt mir soviel Honig ums Maul schmieren, wie Ihr wollt, ich behalte meinen eigenen Kopf!.

Der Sohn von Magda Kertész hat Klage eingereicht

Was immer ihn trieb: Zwischen dem Budapester Institut und der Berliner Akademie herrscht derzeit eine wechselseitige Blockade. Die einen beanspruchen die Urheberrechte am geistigen Nachlass, haben die Urkunde aber noch nicht vorgelegt. Die anderen bewahren, ohne bisher viel damit angefangen zu haben, den größeren und wertvolleren Teil der Manuskripte auf, darunter unveröffentlichte Tagebücher. Sie verfügen aber nur über das Recht auf wissenschaftliche Kleinzitate und Paraphrasen. Die Budapester wiederum hätten gerne digitale Kopien der Berliner Bestände. Sie haben sich gegenüber Magda Kertész verpflichtet, ein nach ihrem Mann benanntes Institut einzurichten und die im In- und Ausland befindlichen Materialien zu publizieren. Derzeit dürfen sie aber nur im Lesesaal der Akademie am Robert-Koch-Platz Einsicht in die Archivalien nehmen.

Die Situation wird dadurch kompliziert, dass der einzige Erbe weit und breit, Magda Kertész’ Sohn aus erster Ehe, Klage gegen die Stiftung eingereicht hat, die sich davon in ihrer Arbeit aber nicht berührt sieht. Márton T. Sass, ein amerikanischstämmiger Immobilienmakler, der als tschechischer Gebietsleiter der in ganz Ostmitteleuropa tätigen White Star Real Estate auch Geschäfte in Budapest macht, will die Schenkungsurkunde für nichtig erklären lassen.

Das Glück der zweiten Ehe. Imre und Magda Kertész im Jahr 2008. 1995 war seine erste Frau Albina gestorben.
Das Glück der zweiten Ehe. Imre und Magda Kertész im Jahr 2008. 1995 war seine erste Frau Albina gestorben.

© REUTERS/Marcel Mettelsiefen

Dabei ist vermutlich schon das Wort vom geistigen Nachlass strittig. Denn die Weltrechte am veröffentlichten Werk von Imre Kertész besitzt, mit Ausnahme von Ungarn, der Hamburger Rowohlt Verlag – bis zum gesetzlichen Ablauf der Regelschutzfrist 70 Jahre post mortem auctoris. Über die ungarischen Rechte verfügt der Budapester Magvetö Verlag, die meisten davon allerdings nur bis zum Jahr 2020. Was wird dann geschehen? Rowohlt sieht sich für den Konfliktfall gewappnet, erkennt zurzeit aber keine Notwendigkeit zu eigenem Handeln.

Verabredung mit Zoltán Hafner, dem Direktor des Kertész-Instituts, im Café Gerbeaud am Vörösmarty-Platz. Der Literaturwissenschaftler ist wohl der beste ungarische Kenner des Werks. Er begegnete Kertész 1994 an der Universität in Szeged, wo er unter anderem zu dem katholischen Dichter János Pilinszky forschte, dessen Blick auf Auschwitz Kertész als verwandt empfand. Hafner führte 2003 nicht nur ein großes Interview mit Kertész, das dieser unter dem Titel „Dossier K.“ zu einer bewegenden Selbstbefragung umarbeitete. Er war bis zu Kertész’ Tod auch ein enger Vertrauter.

„Imre hinterließ uns rund 1800 Dateien von zusammengerechnet 10 000 Seiten, die er mir im Jahr 2011 oder 2012 übergab“, sagt Hafner. „Danach schrieb er mehr oder weniger auf meinem Computer. Den gesamten Nachlass haben wir ausgedruckt. Es gibt auch einen persönlichen Teil, der nicht zum literarischen Schaffen gehört. Den wollte er nicht nach Berlin geben. Zum Beispiel die Dokumente über seine Mutter oder seine erste Frau Albina. Oder die Zeitungsartikel aus den Jahren 1947 bis 1949.“

Antieuropäisches Ressentiment und EU-Mitgliedschaft

Der ungarische Literaturnobelpreisgewinner Imre Kertész, der im März 2016 starb.
Der ungarische Literaturnobelpreisgewinner Imre Kertész, der im März 2016 starb.

© DPA/Georgios Kefalas

Mit Hafner am Tisch sitzt Mária Schmidt, die Generaldirektorin der Stiftung. Sie war zuletzt Generalbeauftragte für das Gedenkjahr 1956 und koordiniert neuerdings die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Schmidt, die durch das Erbe ihres Mannes András Ungár auch zu einer millionenschweren Unternehmerin wurde, der unter anderem das Wochenblatt „Figyelö“ (Achtung) gehört, gilt seit Jahren als Chefhistorikerin der Fidesz-Regierung. Was Linkenhass, die rhetorische Jagd auf den Staatsfeind George Soros und antieuropäisches Ressentiment bei gleichzeitiger EU-Mitgliedschaft angeht, steht sie Viktor Orbán in nichts nach. Jede Kritik am fragwürdigen Demokratieverständnis der Regierung betrachtet sie, wie man erst jüngst in einem Streitgespräch mit der US-Historikerin Anne Applebaum lesen konnte, als Einmischung in die Souveränität Ungarns..

Schmidt kennt Kertész seit den 70er Jahren. „Der ,Roman eines Schicksallosen’ war erschienen“, erinnert sie sich, „und hatte mir sehr gefallen. Wir trafen uns öfter in Gesellschaft oder im Kino, und es bewegte ihn, dass jemand diesen Roman gelesen hatte. Als 1990 meine erste historische Studie ,Kollaboration oder Kooperation’ über den Budapester Judenrat erschienen war, hat er mich sehr gelobt. Es entwickelte sich eine stabile Freundschaft, die sich nach seiner Rückkehr nach Ungarn noch einmal intensivierte, übrigens auch mit Magda.“

Was deren Sohn betrifft, nimmt sie kein Blatt vor den Mund. „Sass kann die Rechte schon deshalb nicht zurückerhalten, weil er sie nie hatte. Er lebte nicht in Ungarn. Als Stiefsohn aus erster Ehe ist er kein Blutsverwandter, und zwischen ihm und Imre herrschte keine harmonische Beziehung. Das sahen sowohl seine Mutter wie Imre so. Als es mit beiden aufs Ende zuging, waren sie übereinstimmend der Meinung, dass man ihm den Nachlass nicht anvertrauen könne. Es war eine sehr konkrete Bitte von Imre, dass er nicht in die Hände von Márton T. Sass fallen soll.“ Wenn man vom Blut-und-Boden-Argument absieht, weist Mária Schmidt, wie jeder aus dem Kertész-Umkreis bestätigt, zurecht auf die spannungsreiche Konstellation zwischen Mutter, Sohn und Stiefvater hin.

Und wie erklärt sie die späte mentale Wendung von Berlin in Richtung Budapest? „Kertész war ein ungarischer Schriftsteller“, sagt sie, „ein ungarischer Patriot, und er blieb es. War Heinrich Heine etwa kein deutscher Schriftsteller, weil er lange in Frankreich lebte? Dass es Momente gab, in denen Kertész die Nase voll hatte von den ungarischen Verhältnissen, lässt sich nicht leugnen. Aber Ungarns Schriftsteller waren schon vor hundert Jahren so. Wenn Sie wüssten, was Endre Ady, Attila József oder György Petri alles über ihr Land sagten, würden Sie das vielleicht anders sehen.“

Finessen des Erbrechts

Márton T. Sass war zu keiner Auskunft bereit, auf welcher Grundlage er die Schenkungsurkunde anficht. Denkbar sind aber drei Argumente. Zum einen könnte er behaupten, dass seine krebskranke Mutter nicht mehr bei Verstand war, als sie ihre Unterschrift leistete, bevor sie eine gute Woche später starb. Das wird schwer zu beweisen sein. Zum anderen könnte er ihr das Recht streitig machen, ihm diesen Teil des Erbes vorzuenthalten. Auch das wird, nachdem er in Form von Immobilien und Vermögen offenbar längst über mehr als den Pflichtteil verfügt, kaum durchzusetzen sein. Schließlich könnte er sich angesichts der nur von Hand unterzeichneten Vereinbarung auf das Fehlen einer notariellen Beurkundung berufen. Das ungarische Erbrecht kennt neben der komplett handschriftliche Verfügung aber auch das bloße Testat im Beisein von zwei Zeugen: Diese waren in Gestalt von Zoltán Hafner und László Farkas zugegen.

Sass hat also einen schweren Stand. Dazu kommt, dass es ihn selbst im Fall eines Sieges wohl überfordern würde, sich selbst um die Rechte zu kümmern. Er wird, wenn er sie nicht verkauft, die Arbeit einem Nachlassverwalter überlassen müssen. Vom Portfolio her würde sich dafür die mächtige, in London und New York ansässige und um exorbitante finanzielle Forderungen nie verlegene Agentur von Andrew – „dem Schakal“ – Wylie anbieten. Sie betreut unter anderem die Nachlässe der Nobelpreisträger Albert Camus, Saul Bellow und Czeslaw Milosz. Ob das ein glücklicher Ausgang wäre?

Die Absicht der politischen Vereinnahmung von Kertész lässt sich nicht vom Tisch wischen. Die Gefahr der Verfälschung hält sich allerdings in Grenzen. Nicht nur, dass Eingriffe anhand der Originalmanuskripte jederzeit nachzuweisen wären. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass Hafner ein treuer Diener seines verstorbenen Herrn sein will, auch wenn er von vielen Seiten als politisch naiv beschrieben wird: Sich mit der Stiftung einzulassen, hat ihn von vielen Weggefährten isoliert. Überhaupt lässt sich Kertész nur unter Mühen umdeuten. Ja man könnte glatt behaupten, dass seine Bücher angesichts der autokratischen Verhältnisse subversive Kraft besitzen.

So finden lauter unglückliche Umstände zusammen. Ein Familienzerwürfnis. Der Leichtsinn einer Akademie, sich nicht rechtzeitig mit der Erbfrage beschäftigt zu haben. Das Unglück eines kleinen Landes, das Machthaber und Oppositionelle in eine unheimliche Nähe bringt. Und ein zerfallendes Europa, das sich zwischen Ost und West kaum noch über gemeinsame Werte verständigen kann. Der Erinnerung an Imre Kertész würde es wohl am meisten helfen, sich über alle Gräben hinweg zusammenzuraufen.

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