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Der britische Gitarrist Andy Gill (1956-2020).

© Jason Decrow

Nachruf auf Andy Gill: Jeder Song ein Drama

Mit seiner Band Gang of Four prägte der britische Gitarrist Andy Gill die Postpunk-Ära. Jetzt ist er gestorben.

Im September 2010 spielen Gang of Four beim Berlin Festival auf dem Tempelhofer Feld. Gleich beim Schlagzeugpodest, haben sie einen silbernen Weinkühler mit einer Weißweinflasche deponiert, daneben echte Gläser.

Sänger Jon King bediente sich während des großartigen Konzerts, und schafft es – intuitiv oder durch langjährige Erfahrung – keinen Schaden anzurichten, wenn er seine Percussionsinstrumente nach Gebrauch immer wieder blind hinter sich wirft.

Sein Gitarrenspiel war ein Markenzeichen der Band

Gitarrist und Sänger Andy Gill schmettert kurz vor der Zugabe „Love like Anthrax“, der Gang of Four-Debütsingle aus dem Jahr 1978, auch noch seine Gitarre achtlos hinter sich auf den Boden: So nah wie an diesem Abend war die Nonchalance dem Punk zuvor noch nie gekommen.

Am Samstag vermeldeten die Bandmitglieder per Twitter den Tod von Andy Gill, den sie als „good friend and Supreme leader“ bezeichnen. Es habe, so hieß es in der Meldung, für ihn nur eine angemessene Art des Abschieds gegeben: Mit einer Stratocaster um den Hals, gegen das Feedback anschreiend und die Taubheit der ersten Reihe billigend in Kauf nehmend.

Politische Integrität

Die Band aus Leeds, die 1976 von Gill, King und zwei weiteren Musikern gegründet wurde, definierte neben dem unverkennbaren, eckig-funkigen Gitarrenspiel Gills vor allem ihre politische und soziale Integrität: Bereits zu Beginn ihrer Karriere verzichteten sie, so will es die Mär, auf einen Auftritt in Großbritanniens medialer Starschmiede „Top of The Pops“, weil sie sich nicht korrumpieren lassen wollten.

Sie weigerten sich, die Textzeile „And the rubbers you hide / in your top left pocket“ aus dem Song „At Home He’s A Tourist“ von ihrem Debütalbum „Entertainment!“ zu ändern. „Rubbers“, Kondome zu erwähnen, war im Vereinigten Königreich des Jahres 1979 zu subversiv für das öffentlich-rechtliche Fernsehen.

Frauenrechte und Filterblasen

Vor zehn Jahren erzählte ein hellwacher Andy Gill, dessen nordenglischer Dialekt deutlich zu hören war, in einem Tagesspiegel-Interview, wie Gang of Four „Ideen über Gesellschaft und Kultur in Frage stellen“ wollten – es ging in ihren Songs um Frauenrechte, um Filterblasen bei der medialen Vermittlung von politischen Aktionen, um Lügen. Als Gill 1979 seine Abschlussarbeit an der Universität schrieb, entstand ein Songtext mit der Zeile „History lives in the books at home / It’s not made by great men“. Gill sagte: „Wir versuchen, jeden Song wie ein einaktiges Drama zu inszenieren“.

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Diese ernsthafte und gleichzeitig ironische Spannung wurde durch Gills präzises Gitarrenspiel gehalten – die Töne, die aus seinem Instrument kamen, waren stets Statement, nicht Dekoration. Dass sein Sound andere Bands inspirierte, die kommerziell erfolgreicher wurden als die Briten, kommentierte er mit leisem Sarkasmus: Flea, der Bassist der Red Hot Chili Peppers, habe ihm mal auf einer Party gestanden, dass er eigentlich damit gerechnet habe, von Gang of Four verklagt zu werden. Gill hatte 1984 das Debütalbum der Red Hot Chili Peppers produziert – und sich dabei heftig mit dem Sänger Anthony Kiedis, gestritten. Gill wollte einen Drumcomputer benutzen, um die nicht timingfeste Band zu unterstützen, Kiedis regte sich fürchterlich über die „seelenlose“ Maschine auf.

Seine einzige Solo-Single handelte von Enteignung

Später produzierte Gill Platten von Michael Hutchence, The Jesus Lizard, Killing Joke und The Stranglers. Den weichgespülteren Achtziger-Sound hörte man seiner einzigen Solo-Single „Dispossession“ an, die er 1987 weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit veröffentlichte. Textlich blieb er sich in dem Track jedoch treu: Es geht um Enteignung.

Seit den neunziger Jahren war Andy Gill mit der Wirtschaftsjournalistin und Frauenrechtlerin Catherine Mayer verheiratet, einer der Gründerinnen der britischen Women’s Equality Party, und beruflich ebenso leidenschaftlich eingespannt wie er. Dass der Musiker noch im Krankenbett Mixe einer neuen Platte anhörte und Pläne für anstehende Tourneen schmiedete, passt zu seinem Energielevel. Gestorben ist Gill mit 64 Jahren an den Folgen einer Atemwegserkrankung. Müde war er garantiert noch nicht.

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