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Nachruf auf Artur Raake (Geb. 1932): "Artur, spuke nicht!"

Ein Doppelbegabter, ein Malerpoet. Die Malerpoeten, so sagt man, malten im Stil des Berliner Realismus. Komisch eigentlich: Sie nannten ihn doch Märchen.

Märchen ging die Zossener runter. Gerade war er getauft worden. Der Himmel lag wie ein graugestrichenes Brett. Märchen lief einfach drunter weg. Er war erregt, freute sich, nun Märchen zu heißen. Veronika hatte das gemacht. Er hatte vor zwei Tagen seine Zeche nicht bezahlt und war heute eigens hergekommen, die Schuld zu begleichen. Sie legte ihm einen Zettel über vier Mark dreißig vor. Über der Zahl stand „Märchen“. Er sagte: „Das bin ich nicht.“Sie hatte die Augen unter den Stirnwülsten geschürzt: „Du hast Märchen erzählt, da nenn ick dir eben Märchen.“ Alle hatten die Gläser erhoben.

Märchen ist jetzt tot. Und das Buch, in dem er vorkommt, vergriffen. Robert Wolfgang Schnell hat es geschrieben, der Malerpoet. „Geisterbahn. Ein Nachschlüssel zum Berliner Leben“, heißt es, und mit dem Berliner Leben war nur Kreuzberg gemeint. Märchen, die Hauptfigur, war ein Mit-Poet.

Zuerst hatten die Malerpoeten ja „Club der Doppelbegabten“ geheißen, und nur Künstler mit mindestens zwei Talenten durften rein. Günther Grass war dabei, als Bildhauer und Schriftsteller und auch Kurt Mühlenhaupt als Leierkastenmann, Zeichner und Dichter. Man sagt, dass die Malerpoeten den Berliner Realismus vertraten, und es ist schon komisch, dass Märchen da mitmachen durfte. Denn was Märchen malte, war alles andere als realistisch: Hexen, Gespenster und Monster, eigentlich Ausgeburten der Hölle, nur dass sie bei Märchen nie böse aussahen – eher wie eine Truppe quietschfideler Comicfiguren. Das mag Aufschluss über Märchens Innenleben geben: In einer Phantasiewelt hat er gelebt, einer kindlich-guten. Eigentlich ist er nie erwachsen geworden.

Märchen bestand aus einer Menge Einzelteilen, die nicht zueinander passen wollten: Schwarze, strähnige Haare wuchsen ihm bis auf die Schultern, er war klein und mager und hatte dabei eine tiefe, knarrende Stimme. Die schlesische Einfärbung war noch deutlich zu hören: Aus „Türe“ wurde bei ihm „Tiere“, obwohl er schon seit dem fünften Lebensjahr Kreuzberger war: aufgewachsen an der Görlitzer Straße, gelebt an der Solmsstraße und an der Naunynstraße, später dann und bis zum Schluss in einem alten, grauen Haus am Carl-Herz-Ufer.

Man schaue sich das mal an, denn bald, nach der Sanierung, wird es so nicht mehr sein. Man gehe das Carl-Herz-Ufer entlang bis zur Nummer Fünf. Gegenüber der Kanal. Diesseits ein schmutziges, kleines Ladenfenster, das noch den Blick in Märchens Atelier erlaubt. Dort hat er auch gewohnt.

Die Wohnung ist ein Schlauch. Wie betrunken windet sie sich durchs ganze Haus. Die Zimmer liegen hintereinander, voller Trödel und fast ohne Tageslicht. Ganz vorn das Atelier: Märchen hat es umgebaut im Stil einer Kneipe samt Theke und hüfthoher Holzvertäfelung. Neben dem Bullerofen eine riesige Kiste mit Kohlebriketts. Deshalb liegt über allem eine feine Rußschicht.

Geschlafen hat Märchen im Hinterzimmer auf einer Pritsche mit fadenscheiniger Bettwäsche, manchmal auch in seinem Sarg. Der stand unterm Fenster. Darin ist der schwarze Schal des Malers in einer ringeligen Wurst ums Kopfkissen gewickelt, die speckige Decke noch so, als habe er sich da gerade erst herausgestrampelt.

Warum er sowas tat, im Sarg schlafen? Das ist schwer zu sagen. Keiner weiß so recht, was wirklich in Märchen vorging. Er hat sich immer viel mit Gott und dem Teufel beschäftigt, sagt die Tochter vage. Er war weder glücklich noch traurig, mal das eine, mal das andere, sagen die Freunde genauso vage. Es scheint, als habe Märchen mit seinen Kapriolen alle immer bestens unterhalten – und als schauten die Menschen nicht richtig hin, wenn sich einer so produziert.

Kreuzberg, das war für Märchen, der sich selbst mal einen „finanziellen Seiltänzer“ genannt hat, eine Nachbarschaft, in der er auch ohne Geld auskommen konnte. In den Hasch- und Jazzkneipen des frühen Kreuzberg hat der Maler die Zeche lieber in Bildern oder mit Musik bezahlt als mit Barem. Oft sah man Märchen Mandoline spielend auf einem der Tische sitzen, gehüllt in Samtpelerine und Barett, als sei er der König von Kreuzberg – und heulend vor Ergriffenheit über das Lied vom „Bucklig Männlein“. Aber wenn er erstmal beim Bucklig Männlein angekommen war, dann war der Abend sowieso schon fast gelaufen.

Oder Geschichten! Was konnte Märchen Märchen erzählen. Am laufenden Band hat er neue Leben erfunden: Bibeln habe er mal verkauft, prahlte er, Beerdigungsreden gehalten und ein Kettenkarussell besessen. „Nur, dass die, die ich damit hätte glücklich machen können, nicht kamen“, sagte er dann betrübt. Polizist sei er gewesen, Kabarettist und Kapitän. Was stimmt, was nicht? Tja.

Aber die Geschichten von den Bootsfahrten, die stimmen. Zwei Jahre lag das Boot am Kanal vor der Tür. Ein paar Mal im Jahr hat Märchen das Geld zusammengekratzt und die Kreuzberger Kumpanen zu denkwürdigen Touren eingeladen. Dann spielten sie unter den Brücken Akkordeon und bliesen die Internationale auf der Kaffeekanne. Und bei der Ankunft waren alle so betrunken, dass sie ins Wasser plumpsten. Und, oh, einmal ist jemand reingefallen und nicht wieder hochgekommen! Das war die Ehefrau des Zirkus-Liliputaners.

Abschiedsabend für Märchen: Die Kleine Weltlaterne ist voll rauchender, hustender Maler mit Bärten und silbernen Pferdeschwänzen, und sie seufzen. Die gute alte Zeit. Ob Märchen auch geseufzt hätte? War Kreuzberg wirklich so romantisch? Eine Zeit lang hat Märchen jeden Tag zwei Flaschen Rum getrunken, bis ihn ein Freund in die Klinik brachte. Am Alkohol ist Märchen aber nicht gestorben. Es war der Krebs und vielleicht auch die Erschöpfung. Jetzt liegt Märchen auf dem Jerusalemer Kirchhof. Noch als junger Mann ist er hier auf der Mauer herumgespenstert, in Bettlaken gehüllt, Geige spielend und hat die Leute erschreckt. „Artur, spuke nicht“, soll auf dem Grabstein stehen. Das hat Märchen sich so gewünscht. Endlich Ruhe.

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