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Fakten und Fiktionen. E.L. Doctorow.

© dpa

Nachruf auf E.L. Doctorow: Auf fremde Stimmen hören

Wie man die amerikanische Geschichte erfindet: Zum Tod des Erzählers E. L. Doctorow, der Geschichte und Geschichten wie kein zweiter zu verbinden wusste.

Von Gregor Dotzauer

Die Einzigartigkeit seiner Romane erwuchs aus der Spannung von historischen Stoffen und abenteuerlichen Erzählstrategien. Kein amerikanischer Schriftsteller begab sich näher an die Quellen des nationalen Selbstbewusstseins als E. L. Doctorow, keiner rüttelte aber auch mit modernen und postmodernen Mitteln so sehr an Genrekonventionen und illusionistischen Suggestionen.

Schon „Welcome to Hard Times“, der Western aus dem Dakota des 19. Jahrhunderts, mit dem er 1960 debütierte, verwandelte den Konflikt zwischen einem mörderischen Bad Man und einem mutlosen Bürgermeister in einen philosophischen Versuch über das Böse. Und sein jüngster, erst 2013 erschienener Roman „Andrew’s Brain“, mit dem er sich unwiderrruflich in die Gegenwart vorgearbeitet hatte, setzte wie 1971 im „Buch Daniel“ über Atomspionage im McCarthy-Zeitalter wieder einmal auf das Potenzial eines unzuverlässigen Erzählers – mit all den komischen Effekten, die es hat, wenn ein Hirnforscher zugeben muss, dass er sich in der Unaufgeräumtheit seines Oberstübchens nicht zurechtfindet.

Man durfte die Geschichten seiner Bücher selbst da, wo sie sich offenbar tatsächlich ereignet hatten, nie für bare realistische Münze nehmen. Er begegnete ihnen immer von der Seite, von unten oder oben, und je panoramatischer die Figuren- und Gemengelage wurde, zuweilen aus allen erdenklichen Perspektiven. Mehrere Erzähler treten mit unterschiedlichen Sichtweisen auf oder strudeln das Geschehen im Stream-of-Consciousness-Verfahren in sich hinein. Auch Billy Bathgate, der 15-jährige Titelheld seines Romans über die letzten Monate des New Yorker Gangsterkönigs Dutch Schultz in den dreißiger Jahren, bildete den fiktionalen Zugang zur Epoche der Prohibition. Daniel Kehlmann bekannte vor einigen Jahren, dass dieses Buch ihn im Alter von 16 Jahren erstmals begreifen ließ, „was das eigentlich ist: die Stimme eines Romans. Sie ist nicht identisch mit dem Stil, eher ist sie die Illusion einer Person, identisch weder mit dem Erzähler noch dem Autor, doch mit beiden eng verwandt.“

Weiße Mittelschicht, jüdische Einwanderer und schwarze Underdogs

Von „Ragtime“, Doctorows größtem Erfolg, der in der Verfilmung von Milos Forman wie als Musical um die Welt ging, behauptete er sogar, ohne die Lektüre hätte er niemals „Die Vermessung der Welt“ schreiben können. „Ragtime“, die Schicksale dreier Ostküstenfamilien zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war für ihn „ein Spiel mit amerikanischer Geschichte, erzählt mit den formalen Mitteln deutscher Romantik“. Während eine Familie aus der weißen Mittelschicht stammte und eine aus jüdischen Einwanderern aus Lettland bestand, schuf er in Gestalt des schwarzen Jazzpianisten Coalhouse Walker jr., dessen Geschichte den breitesten Raum einnimmt, einen Underdog, mit dem er sich ausdrücklich auf Kleists Michael Kohlhaas und dessen selbstzerstörerischen Kampf bezog.

Der besondere Reiz dieses antirassistischen Schlachtengemäldes besteht darin, dass sich geschichtliche und ausgedachte Figuren im Namen einer höheren menschlichen Wahrheit auf eine Weise überkreuzen, die selbst in Kenntnis des historischen Personals von Sigmund Freud, der Anarchistin Emma Goldman oder dem Bankier J. P. Morgan offenlässt, wo Doctorow Faktisches sprechen lässt und wo er es in Fiktives überführt. Mit „Ragtime“ qualifizierte er sich zum Helden eines Genres, das die Literaturwissenschaftlerin Linda Hutcheon historiografische Metafiktion getauft hat.

Edgar Lawrence Doctorow war der Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in zweiter Generation. Am 6. Januar 1931 in der New Yorker Bronx geboren, wuchs er in ökonomisch bescheidenen, aber kulturell anregenden Verhältnissen auf. David, der Vater, verkaufte in seinem Laden Musikinstrumente, Rose, die Mutter, spielte Klavier. Schon als Neunjähriger beschloss er, Schriftsteller zu werden, hielt es allerdings nicht für nötig, gleich etwas zu schreiben. Er wollte erst einmal lesen, und er las, was ihm zwischen die Finger kam. Die Kinderfrage „Was passiert als Nächstes?“ interessierte ihn weniger als das handwerkliche Rätsel „Wie ist das gemacht?“. Auch nachdem er am Kenyon College einen Literatur-Bachelor erworben und an der Columbia University englisches Drama und Theaterregie studiert hatte, war er noch nicht wirklich bereit.

Er wurde zur Armee eingezogen und verbrachte die Jahre 1954/55 als Korporal der Alliierten in Deutschland, wo er auch seine Freundin, die Schauspielerin Helen Setzer, heiratete, mit der er drei Kinder bekam. Er schlug sich durch, indem er ohne Rücksicht auf Wochenenden Tag für Tag ein Drehbuchgutachten nach dem anderen für eine Film- und Fernsehproduktion verfasste. Bis 1969 arbeitete er neben seiner eigenen literarischen Arbeit als Lektor bei der Dial Press und betreute dort unter anderem Bücher von James Baldwin und Norman Mailer. Ein Beruf, der ihn Selbstkritik lehrte und die Freiheit, Romane im Zweifel von Grund auf neu zusammenzusetzen.

Ein auf Anhieb erkennbarer Stil war ihm verhasst. „Ich will“, erklärte er George Plimpton in der „Paris Review“, „dass sich ein Buch selbst erfindet. Ich glaube, dass ein Schriftsteller am Ende ist, sobald er weiß, was sein Stil ist. Denn dann sieht man seine eigenen Grenzen, und man hört seine eigene Stimme im Kopf. An diesem Punkt kann man den Laden eigentlich dichtmachen.“ Dennoch haben seine Bücher zweifellos einen inneren Zusammenhang, eine von einem linksliberalen Gerechtigkeitssinn geprägte Haltung, der er auch gerne publizistisch Ausdruck verlieh, und einen Grad der Durcharbeitung, dem in der Regel fünf oder sechs frühere Fassungen zugrunde liegen.

Nur der stark autobiografische Roman „Weltausstellung“, in dem sein Alter Ego Edgar Altschuler vom Aufwachsen in der Bronx erzählt, ging ihm leicht von der Hand: „Gott gab mir ein Bonusbuch“, sagte er. Am unverstelltesten findet sich seine Sicht auf Amerika, seine Gesellschaft und Literatur aber in den Essays „Reporting the Universe“, die sich der Vermessenheit ihres eine Formulierung von Ralph Waldo Emerson aufnehmenden Titels sehr wohl stellen.

In Deutschland erschien zuletzt „Homer & Langley“, die Geschichte der neurotischen, über Jahrzehnte in einem Haus in Manhattan vergrabenen Gebrüder Collyer, deren Leben nichtfiktional weiträumig dokumentiert ist. Unter Aufbietung seiner ganzen Kunst verlängert es Doctorow nicht nur vom gemeinsamen Todesjahr 1947 bis in der Zeit der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung. Er gewinnt daraus eine Ansicht der Vereinigten Staaten, die das gesamte 20. Jahrhundert umfasst. Niemand weiß, ob Barack Obama auch dieses letzte Historienspiel des nun mit 84 Jahren gestorbenen Autors gelesen hat. Doch alles spricht dafür, dass sein Tweet keine Phrase war: „E. L. Doctorow was one of America’s greatest novelists. His books taught me much, and he will be missed.“

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