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Grauen in allen Farben. Edgar Hilsenrath (2.4.1926 – 30.12.2018).

© Foto: Robert Michael/ddp

Nachruf auf Edgar Hilsenrath: So reden die Menschen halt

Unberechenbar und unbürgerlich: Zum Tod des verkannten deutsch-jüdischen Autors Edgar Hilsenrath.

Er war ein Schalk und ein Zauberer. Noch im Herbst 2006 saß Edgar Hilsenrath auf dem Sofa seiner Wohnung in Berlin-Zehlendorf. Der 80-Jährige hatte seinen dritten Schlaganfall hinter sich, das Sprechen fiel ihm schwer. Doch er steckte sich eine Zigarette nach der anderen an. Wann er mit dem Rauchen angefangen habe? „Jaaa“, holte Hilsenrath aus. 1944, mit 17 Jahren, sei er aus einem Ghetto in Rumänien abgehauen und erwischt worden. „Die Soldaten stellten uns vor ein Maschinengewehr“, berichtete er. „Aber sie kriegten Angst weil die Rote Armee nahte.“ Ein Soldat habe ihm eine Zigarette gegeben. „Seitdem rauche ich.“

Ob die Episode nun stimmt oder nicht: Es war eine echte Hilsenrath-Story: Angst und Komik kommen darin vor - und ein menschliches Bedürfnis mitten in Schreckensjahren. Nun geht mit Edgar Hilsenrath einer der ungewöhnlichsten Chronisten der Vernichtung der Juden Europas. Ein unberechenbarer, ein unbürgerlicher deutscher Schriftsteller. Einer, der immer Anstoß erregte, so unsentimental und witzig war er. Er wollte e nicht zur verschämten Erinnerungskultur der Deutschen passen.

Bis in die siebziger Jahren traute sich kein Verlag, Hilsenraths große Romane „Nacht“ und „Der Nazi & der Friseur“ zu drucken. Da wurden sie im Ausland schon von Hunderttausenden gelesen. Diese Ablehnung kränkte Hilsenrath tief: Trotz weltweit fünf Millionen verkaufter Bücher und Übersetzungen in 18 Sprachen, ist er in Deutschland nie in die Riege der Großen aufgenommen worden. „Die Deutschen wollen uns Juden vorschreiben, wie wir zu schreiben haben“, meinte er leicht verbittert. Und doch galt seine Liebe immer diesem Land und seiner Sprache.

Prügel vom Lehrer

Edgar Hilsenrath wurde am 2. April 1926 als Sohn jüdischer Kaufleute in Leipzig geboren. Er wuchs in Halle auf, war der einzige Jude in seiner Schule. Eines Tages malte der Klassenlehrer ein Schwein an die Tafel, fragte, warum Juden kein Schweinefleisch äßen und gab gleich die Antwort: Weil sie nicht ihresgleichen verspeisten. Hilsenrath widersprach, bei ihm zuhause gebe es Schwein. Der Lehrer verprügelte ihn daraufhin.

Kurz vor der Reichspogromnacht 1938 schickte Vater Hilsenrath die Mutter mit den beiden Söhnen zu den Großeltern in das Schtetl Sereth in der Bukowina. Für Hilsenrath begann eine glückliche Zeit. Er erlebte die Restwelt der K.u.K.-Monarchie: Juden, Rumänen, Ukrainer, Zigeuner und Deutsche lebten in Sereth friedlich zusammen. Bis die Juden 1941 in ein Ghetto deportiert wurden, das von den rumänischen Verbündeten der Nazis verwaltet wurde.

Fünf Jahre nach seiner Befreiung aus diesem „Ort ohne Gott“ und einer abenteuerlichen ziellosen Reise über Palästina, saß Hilsenrath in einem Café in Lyon. Er ließ sich Papier und Stift bringen und schrieb wie im Rausch seine Erlebnisse nieder. Wenig später wanderte er nach New York aus, wo er zwölf Jahre später „Nacht“ vollendete.

In dem Roman herrscht eine Welt ohne Erbarmen, die Menschen sind Bestien, die sich für ein Stück Brot erschlagen. Man ist froh über jeden, der verreckt, weil es einen Esser weniger und einen Schlafplatz mehr gibt. Kälter ist das Ghettoleben wohl nie geschildert worden. Doch anders als in den USA fand sich in Deutschland kein Verleger für das 600-Seiten-Werk. Weil Hilsenrath die Juden nicht als bessere Menschen zeigt, sondern als vom Ghetto entmenschlichte Wesen? Der Kindler Verlag brachte „Nacht“ 1964 in einer Auflage von 1200 Exemplaren heraus und zog den Roman dann wieder zurück.

Kritiker hadern mit ihm

Erst 1978, nachdem Hilsenrath mit der irrwitzigen Satire „Der Nazi & der Friseur“ ein spektakulärer Erfolg gelingt (auch dieser Roman war von 60 deutschen Verlagen abgelehnt worden), wird „Nacht“ erneut veröffentlicht – und stieß wieder auf Ablehnung. „So geht das nicht“, schimpfte Fritz J. Raddatz in der „Zeit“ 1978: „Statt Grauen zu fixieren, wird es breitgetreten, statt das Entsetzen zu bannen, wird es behäbig gemacht; damit konsumierbar.“

Da lebte Hilsenrath schon seit drei Jahren wieder in Deutschland. „Ich vermisste die deutsche Sprache“, erklärte er seine Rückkehr. „Und ich war auf der Suche nach einer Freundin.“ Auch das typisch Hilsenrath: Er schreibt über dralle Hintern und schnelle Nummern, bei ihm wird gefurzt, gerülpst, gelutscht und geschissen. Dem Vorwurf der Obszönität begegnete er mit Schulterzucken: „So reden die Menschen halt.“

Seine dichterische Ader offenbarte Hilsenrath 1989 mit dem Epos „Das Märchen vom letzten Gedanken“. Nach Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von 1933 war es erst der zweite Roman über den Völkermord der Türken an den Armeniern. Hilsenrath schrieb mit solcher Einfühlsamkeit und Präzision, dass ihm die Universität Eriwan einen Ehrendoktor verlieh.

Die rote Mappe mit der Urkunde bewahrte Hilsenrath stets griffbereit auf dem Wohnzimmertisch seiner Einzimmerwohnung auf. Diese sah auch nach seiner Heirat 1978 noch wie eine Junggesellenbude aus. Vielleicht weil Hilsenrath nie mit seiner2004 verstorbenen ersten Frau Marianne zusammenlebte. Seinen einzigen Sohn zeugte Hilsenrath ohne es zu ahnen Anfang der 50er Jahre in Frankreich. Er traf ihn erst als erwachsenen Mann.

Späte Anerkennung

Trotz mehrerer Bestseller brachte es Hilsenrath nie zu Geld. Sein US-Verlag ging pleite, er blieb ein Einzelgänger. Dennoch schmerzte ihn die ausbleibende Anerkennung in seiner Heimat. 2004 erhielt er zwar den Lion-Feuchtwanger-Preis. „Ich wollte aber immer den Büchner-Preis“, sagte er, die höchste literarische Auszeichnung Deutschlands. Die Wertschätzung aber kam von anderer Seite. Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski sagt über den Schtetl-Roman „Jossel Wassermanns Heimkehr“: „Manche Menschen werden weinen, wenn sie das Buch lesen.“

Als die Juden am Anfang des Buchs im Deportationszug stehen, hört der Rabbi den Wind vor dem Waggonfenster pfeifen: „Und der Wind da draußen, der flüsterte dem Rebben etwas ins Ohr. Und der Rebbe nickte und sagte: ‚Ja, du hast vollkommen recht. Die Gojim sind dumm. Sie plündern jetzt unsere Häuser. Und sie graben in unseren Gärten. Und sie glauben, dass wir alles zurückgelassen haben, was wir besaßen. Und sie lachen sich ins Fäustchen. Dabei wissen sie nicht, dass wir das Beste mitgenommen haben.’ ‚Was ist das Beste?’, fragte der Wind. Und der Rebbe sagte: ‚Unsere Geschichte. Die haben wir mitgenommen.’“

Am Sonntag ist Edgar Hilsenrath, wie seine zweite Ehefrau, die Linken-Politikerin Marlene Hilsenrath mitteilte, nun mit 92 Jahren im rheinland-pfälzischen Wittlich nach einer Lungenentzündung gestorben. Seine wunderbaren Geschichten hat er dagelassen.

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