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Kopf der Bielefelder Schule. Hans-Ulrich Wehler (1931-2014).

© Karlheinz Schindler/dpa

Nachruf auf Hans-Ulrich Wehler: Erkenntnis und Engagement

Wie kein anderer deutscher Historiker verband er wissenschaftlichen Glanz mit publizistischer Stärke. Zum Tod von Hans-Ulrich Wehler

Geschichtsschreibung und politische Publizistik funktionieren nach unterschiedlichen Gesetzen. Historiker spüren meist den Vieldeutigkeiten vergangener Phänomene nach und sind auch dann zu vorsichtigem Abwägen, vielen Nuancen und der Schilderung in Grautönen bereit, wenn sie kausal erklären, politisch werten und die Bedeutung von Vergangenem für die Gegenwart herausarbeiten. Politische Publizisten spitzen dagegen scharf zu, gewinnen Aufmerksamkeit gern auch durch Einseitigkeit und ersetzen die Grautöne durch prägnantes Schwarz-Weiß.

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten von Hans-Ulrich Wehlers Leben und Werk, dass er beides zusammenzwang. Eben dies macht im Kern seine einzigartige Bedeutung aus. So erklärt sich seine erhebliche Wirkung auf die deutsche Geschichtswissenschaft seit den 60er Jahren. Aber auch die politische Kultur des Landes wäre ohne ihn ärmer. Beide Leistungen in ihrer Verbindung haben ihn, der am Samstag 82-jährig in Bielefeld starb, zum einflussreichsten Historiker der Bundesrepublik gemacht.

Er studierte vor allem in Köln bei Theodor Schieder, der ihn nur mit großer Mühe gegen die Bedenken vieler Fakultätskollegen habilitierte. Er nahm früh Anregungen aus den Sozialwissenschaften auf, wurde durch Studienaufenthalte in den USA beeinflusst und entwickelte seit Mitte der 60er Jahre das Programm einer umfassenden Sozialgeschichte in kritischer Absicht, die sich scharf von der politikgeschichtlich geprägten Tradition des Faches absetzte, Strukturen und Prozesse mehr als Ereignisse und Handlungen betonte und zugleich ihr gesellschaftlich-politisches Engagement in der Gegenwart – im Zeichen angewandter Aufklärung – ernst nahm. Viele Jüngere hat das fasziniert. Er selbst trug mit Arbeiten zur Geschichte von Sozialdemokratie und Nation, zur Geschichte des amerikanischen und des deutschen Imperialismus sowie des Kaiserreichs 1871-1918 mit empirisch gesättigten Forschungen zur Durchsetzung dieser Richtung gegen vielfältige Widerstände bei, vor allem aber mit fundierten programmatischen Artikeln und viel gelesenen Sammelbänden, etwa zu „Geschichte und Soziologie“ oder „Geschichte und Ökonomie“.

Seit 1971 lehrte Wehler an der neugegründeten Reformuniversität Bielefeld, die zur wichtigsten Heimstatt der kritischen Sozialgeschichte wurde. Deren Vertreter sprachen lieber von „Gesellschaftsgeschichte“, also einschließlich von Politik, Ökonomie und später auch Kultur, oder von „Historischer Sozialwissenschaft“, womit ihre analytische Herangehensweise, ihre Theorieorientierung und ihre Nähe zu sozialwissenschaftlichen Traditionen, besonders Max Webers, in den Blick gerückt wurde. Man sprach von der „Bielefelder Schule“ der Geschichtswissenschaft, die ins Reformklima der Zeit passte, umstritten und ein Minderheitsphänomen blieb, auch in sich sehr heterogen war, aber international weit ausstrahlte und bis heute wirkt.

Die von Wehler mit anderen seit 1975 herausgegebene Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft" wurde ihr wichtigstes Organ und Wehlers grandiose, enzyklopädische, fünfbändige, zwischen 1987 und 2008 erscheinende „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ (4900 Seiten!) ihr vermutlich wichtigstes Produkt.

Kritik – meistens mit Augenmaß – verkörperte Wehler nicht nur in methodischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Deutung der deutschen Geschichte, der er, zusammen mit anderen, zum Durchbruch verhalf. Es war eine Interpretation, die die Verwerfungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Blick nahm: ihre obrigkeitsstaatlichen Belastungen, ihre späte Parlamentarisierung, die Schwächen des Liberalismus, die Rückständigkeit ihrer Eliten und ihrer politischen Kultur – Schwächen, die miterklären, warum die große Krise der Zwischenkriegszeit in Deutschland anders als in den westlichen Demokratien zum Kollaps von Republik und Demokratie und zum Sieg eines radikalen Faschismus im Hitler-Reich führten. In dieser Hinsicht sprach auch Wehler zeitweise von einem „deutschen Sonderweg“.

Der kritische Blick auf die deutsche Geschichte hinderte ihn nicht an der Erkenntnis ihrer Stärken

Kopf der Bielefelder Schule. Hans-Ulrich Wehler (1931-2014).
Kopf der Bielefelder Schule. Hans-Ulrich Wehler (1931-2014).

© Karlheinz Schindler/dpa

Die kritische Sicht auf die deutsche Geschichte vor Hitler verband Wehler mit dem Programm, durch genaue, ungeschminkte Erkenntnis dazu beizutragen, dass die Geschichte der Bundesrepublik zum gelingenden Neuanfang würde. Hier sah er die Pflicht der Historiker zur politischen Bildung verortet, durch kritisch-selbstkritische Wissenschaft zur Selbstaufklärung und damit zur Festigung eines demokratischen Gemeinwesens beizutragen: ohne überflüssige Herrschaft und Ungleichheit, freiheitlich-demokratisch verfasst, fähig zu Reform und Innovation. Die Kritik an dominanten Traditionen der Geschichtswissenschaft verband Wehler mit der Kritik an belastenden Beständen der deutschen Geschichte. Von diesem Programm hat er als Autor, Lehrer, Organisator und formulierungsstarker Publizist erstaunlich viel umsetzen können.

Übrigens hinderte ihn seine Sicht auf die deutsche Geschichte keineswegs daran, deren Stärken und Vorzüge zu erkennen. Dazu rechnete er die frühe Entwicklung des Sozialstaats, die Modernität und Ausstrahlungskraft des Bildungsbürgertums wie auch die wesentlichen Weichenstellungen und die Westorientierung der Bundesrepublik seit den späten 1940er Jahren, ganz im Gegenteil zur DDR, die er als Misserfolg durch und durch abqualifizierte.

Auf dieser Grundlage hat Wehler immer wieder in öffentliche Diskussionen eingegriffen, mit historische geschultem Urteil und weit über seine spezifischen Fachinteressen hinweg. Er verstand es, publikumswirksam zu formulieren, dezidiert und leidenschaftlich. Er hat beispielsweise wesentlich, in enger Zusammenarbeit mit Jürgen Habermas, zum „Historikerstreit“ der 80er Jahre um den Stellenwert des Holocaust beigetragen und sich erfolgreich gegen alle Versuche gewehrt, die deutsche Geschichte zu beschönigen und zu „entsorgen“. Er hat sich in der Frage der EU-Weiterung gegen den Beitritt der Türkei positioniert und überhaupt immer wieder aus seinem Misstrauen gegenüber bestimmten Konsequenzen des politischen Islam kein Hehl gemacht. Er hat wirkungsvolle Kritik an der Zunahme ökonomischer Ungleichheit in der Bundesrepublik geübt. Zuletzt hat er sich – in Kritik an Christopher Clarks und Herfried Münklers Büchern über den Ersten Weltkrieg – gegen eine allzu rasche Europäisierung der Frage nach der Verantwortung für den Kriegsausbruch von 1914 eingesetzt, in Verteidigung von Fritz Fischer und seiner Betonung deutscher Kriegsschuld.

Immer häufiger ist Wehler von den Medien als Kommentator von Zeitfragen gefragt worden. Er hat diese Einladungen gern angenommen. Kein anderer Historiker hat ein gewichtiges, innovatives und einflussreiches fachwissenschaftliches Werk mit so vielen publizistischen Beiträgen verbunden. Dabei ist Wehler auch vor Zuspitzungen und Vereinfachungen nicht zurückgeschreckt, er hat viele Gegner gehabt und manchen verletzt. Er vertrat, wie er gern sagte, das „agonale Prinzip“, die Überzeugung, dass auch einseitige Stellungnahmen von Nutzen sein können, sodass aus offener Kritik und offener Gegenkritik Vorteile für Erkenntnis und Gemeinwohl resultierten. Wehler war aber auch bereit, harte Kritik seinerseits entgegenzunehmen – und aus ihr zu lernen. Seine Fähigkeit zur Kontroverse ist zweifellos auch dem Aufstieg der von ihm mit begründeten Form der Sozialgeschichte zugute gekommen. Geschichtsschreibung und Gegenwartspublizistik können sich auch gegenseitig befruchten. Dies vor allem führt Wehlers Werk in unnachahmlicher Weise vor.

Der Berliner Sozialhistoriker Jürgen Kocka, geboren 1941, lehrte von 1973 bis 1988 zusammen mit Hans-Ulrich Wehler an der Universität Bielefeld.

Jürgen Kocka

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